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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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eines Tages der Moment kommen, da man auch dazu das Recht hat.
    Bis dahin jedoch gilt es, auch unter größten Schmerzen besonnen und wach zu bleiben. Solange du arbeitest, hast du kein wirkliches Recht, vor dem Schmerz zu fliehen.
    Disziplin … ein fast noch größeres Erlebnis als das Morphin, als jede Art euphorische Betäubung, ein größeres Erlebnis als der Kampf und die Auseinandersetzung. Diszipliniert bleiben und beobachten, wie das Leben und die Menschen ihr wahres Gesicht enthüllen, ihre Masken ablegen: Das zu belauschen und zu beobachten, was für ein Erlebnis!
    Huizingas Buch Im Bann der Geschichte . Die Frage lautet: Worin besteht der eigentliche Sinn der menschlichen Geschichte? Die Wahrheit liegt irgendwo zwischen den Auffassungen von Vico und Marx: Die Geschichte der Menschheit ist ein ständiges Bestreben, von der Barbarei auf die höhere Ebene der Sittlichkeit zu gelangen, ein Versuch, der immer wieder neue Rückfälle und neue Barbarei nach sich zieht; der wahre Sinn der menschlichen Geschichte besteht im permanenten Klassenkampf zwischen den Besitzenden und den Besitzlosen.
    Pfingsten, Schirokko. Die Luft ist voll feinen Bleistaubs. Ich durste nach Luft, lebe mit pochendem Herzen.
    Vilmos Juhász’ Versuch einer Religionsgeschichte, Der Weg zur Erlösung . Eine bescheidene, volkstümliche Zusammenfassung der Religionsgeschichte der primitiven Völker. Was er über das sexuelle Schuldbewusstsein als eine Hauptquelle des religiösen Grundgefühls sagt, klingt verlockend realistisch. Man müsste es einmal überprüfen.
    Pläne :
    Zwei Romane: Die Schwester und Mana, oder der Detektivroman . Der zweite und dritte Band von Die Beleidigten .
    Theaterstücke: Zauber . Sodann: Kampf , Begegnung in Bolzano (in Versen) sowie ein Kammerspiel mit sechs Figuren über Mark Aurel: über jenen Menschen, der ohne Akten, im Namen sittlicher Prinzipien über ein Weltreich herrscht, sich jeden Morgen vornimmt, die Menschheit durch Erziehung zu retten, und sich jeden Abend gezwungen sieht, Todesurteile zu unterzeichnen …
    Antrittsvorlesung an der Akademie: »Inspiration und Generation«. (Über die überpersönliche Inspiration der Kultur.)
    Ein Band Gestern und heute . Ein Band mit Erzählungen; das Material beider Bände in einem, natürlich nach sorgfältiger Umarbeitung.
    Das alles ist, sofern es das Leben erlaubt, die Arbeit eines Jahrzehnts.
    Ich bekomme Besuch von meinem deutschen Verleger . In Deutschland lautet das Motto zurzeit: »Lasst uns den Krieg genießen, der Frieden wird schrecklich sein.« Ich glaube, das Motto ist begründet.
    Meine einzige Waffe gegen die Welt: Ich erwarte nichts von ihr. Ich flehe nicht einmal darum, in Ruhe gelassen zu werden.
    Ich wehre mich, so gut es geht: vor allem, indem ich mich gar nicht mehr wehre.
    Vor hundert Jahren starb Hölderlin, Cherub und Wahnsinniger. Seine Wirkung in unseren Tagen, dank Nietzsche, dem anderen Wahnsinnigen, der kein Cherub war: in Deutschland gewaltig, in Europa nichtig. Die Jugend eines großen Volkes glaubt die Inspiration, derer jedes Handeln bedarf, im Pathos eines Wahnsinnigen zu finden.
    Die neue ungarische Übersetzung von Machiavellis Principe . Ich lese das Buch nachmittags im Café mit jenem anerkennenden Nicken, das man Jahrhunderte später einem Autor schuldet, der plötzlich erlebt, dass sein Werk, seine Ratschläge, seine Prophezeiungen sich vollends erfüllt haben.
    Jetzt habe ich verstanden, warum das Buch – wie ich hörte – die Lieblingslektüre, livre de chevet , eines meiner großen Zeitgenossen in den letzten Jahren war. Die Methode, die Cesare Borgias einstiger Hauschronist den Fürsten empfiehlt, ist verblüffend einfach. Am besten ausrotten, wiederholt er hartnäckig – ein Grundsatz, über dessen Modalitäten sich zwar streiten lässt, den er aber nicht müde wird in einfacher und geballter Form vorzubringen; ausrotten: die Bevölkerung von Städten, von Provinzen, die Familien unserer Feinde. Ausrotten, denn einer, der Angst hat, ist nicht weniger gefährlich als einer, der hasst. Ausrotten: weil das am einfachsten und sichersten ist.
    Der Ratschlag ist nicht neu. Aber das Buch lebt und schreit heute; es ertönt eine Stimme aus dem fünfzehnten Jahrhundert und wirkt mächtig und überzeugend in der Gegenwart. Es waren vierhundert und ein paar Jahre nötig, bevor das Buch auf überzeugendere Art in Mode kommen konnte als jeder Bestseller.
    Eine Stunde im Horváth-Park , auf einer Bank, auf einem mit Sand

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