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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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bestreuten Kinderspielplatz: Unermüdlich morden sich die kleinen Hitlers, Dschingis Khans und Timur-Lengs im Sand. Lauter Mörder und Opfer, so weit das Auge reicht. Ein Dreijähriger mit kahlgeschorenem Kopf, rundem Schädel und kalten, mongolischen Augen, des Gehens kaum mächtig, versucht fachmännisch, unermüdlich, mit großem Ernst, schwitzend, keuchend und stumm das Gesicht eines dümmlichen, blonden fünfjährigen Jungen in den Sand zu drücken, damit er erstickt. Die Eltern auf den Bänken weiden sich an diesem reizvollen Kampf in Dreck und Sand. Vier Bengel haben sich aus Bohnenschoten Pfeifen gebastelt und verfolgen mit Höllenlärm ein flüchtendes Mädchen. Die Dümmeren sitzen am Rand und warten darauf, von ihren Folterern gerufen zu werden.
    Worauf sollen wir noch hoffen? …
    Der Krieg, wie er mich in meinen Träumen heimsucht: Ich bin mitten in einer Operation, die unbedingt beendet werden muss.
    Nein, ich weiß genau, dass ich nicht zum Angestellten geboren bin.
    Womöglich gehe ich daran zugrunde, aber vielleicht schadet es nicht, wenn ich es auf mich nehme, das Ansehen der Schriftsteller zu retten.
    Die Totenfeier in finnisch-ugrischen und slawischen nomadischen Hirten-, Jäger- und Fischerkulturen: Jedes Jahr laden die Verwandten ihre Toten in ihre Hütten ein, unterhalten sich mit ihnen, tragen ihre Klagen vor, bewirten sie und schnitzen nach ihrem Weggang mit der Axt Kerben in den Sturzbalken des Herdes, um eventuell zurückgebliebene Geister zu verscheuchen. (Hervorragendes Bühnenbild.)
    Ich habe angefangen, Virginia Woolfs Roman Die Jahre zu lesen. Sie geht souveräner mit der Zeit um als Proust; und wie viel stille, ernsthafte Kraft in jeder Zeile steckt! Sie ist neben Colette die einzige Schriftstellerin, bei der ich eine große Kraft spüre.
    Ich will es nicht verschreien, aber seit letzter Woche – seitdem ich im Bewusstsein lebe, jede Art Journalismus aus meinem Leben verbannt zu haben – schreibe ich Die Möwe leichter, befreiter, und ich glaube, dass auch das, was ich diese Woche geschrieben habe, nicht schlecht ist. Als hätte ich meine Stimme wiedergefunden.
    Meine Freunde warnen mich, »dass es einem Schriftsteller schadet, wenn sein Name nicht präsent ist …« – wie sehr wir aneinander vorbeireden! Ich habe das Gefühl, nichts ist dem Ruf eines Schriftstellers abträglicher, als wenn sein Name »präsent« ist.
    Hans Blüher , Traktat über die Heilkunde .
    Der Arzt – so der deutsche Verfasser – war in alten Zeiten ein Priester und ist es noch heute oder müsste es sein, eine Art Verbindungsoffizier zwischen Gott und den Menschen. Auch nach Hippokrates und Paracelsus ist das Heilen eine Art religiöse Handlung: Die Welt ist nichts anderes als ein kranker Gott, und wenn der Arzt einen gebrochenen Finger heilt, korrigiert er ein Stück an dieser Gottheit insgesamt. Der Arzt in den alten Kulturen heilte also mittels religiöser Kraft im Rahmen ständischer Kulte; der zivile, heidnische Arzt von heute ist nur dann wirklich Arzt, wenn er in der Lage ist, diese Verbindung zwischen der kranken, menschlichen Heilkraft und der göttlichen Heilkraft mit weltlichen Mitteln herzustellen.
    Die Beklemmung, die Angst ist stets verdrängte Sexualität. (?)
    Hitze, schmuddelige Hundstage, die ich – blutarm und erschöpft, wie ich bin – gierig schlucke, wie der durstende Wanderer in der Wüste das nach Körper riechende warme Wasser aus der inneren Kammer des geschlachteten Kamels.
    Nach Blüher ist es leichter, das zu tun, was wir wollen, als das zu wollen, was wir wollen.
    Es gibt zu wenig Freude in meinem Leben. Doch Freude ist eine Erscheinungsform der Wahrheit: Ich habe kein Recht, mich ihr zu verweigern.
    Ich habe beschlossen, mit dem Journalismus zu brechen – warum eigentlich? Weil ein Schriftsteller in einem bestimmten Alter, ab einer bestimmten Entwicklungsstufe nicht mehr ungestraft für Zeitungen schreiben kann. Das ist die Wahrheit, alles andere nur eine Ausrede. Dieses niveaulose, hingestotterte Kommentieren von Begebenheiten und Ereignissen, zu dem die Publizistik heute, da wir keine freie Presse mehr haben, verkommt, ist für jeden Schriftsteller zutiefst erniedrigend und korrumpierend. Im Frieden, wenn es wieder Freiheit und eine Presse gibt, zwanglos, nach Lust und Laune über Reisen, über Begebenheiten schreiben … vielleicht. Aber jetzt muss ich verstummen, mich in dieses Tagebuch, in meinen Roman, ins Schreiben zurückziehen, so wie es mir das Schicksal, das

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