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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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kann so fragen.
    Nein, dieses Gesellschaftsspiel unzurechnungsfähiger Lumpen ist wirklich kein »literarisches Leben« mehr! – man darf sich keinen Deut mehr daran beteiligen … Jemand, der noch vor einigen Wochen eine gemeinsame Erklärung unterzeichnet hat, in der er gegen den groben Ton parteilicher literarischer Urteile protestiert – leider hat man auch mich unterzeichnen lassen –, fällt über den toten Kosztolányi her und tritt ihm mit ganzer Wucht gegen die Brust.
    Keinen Schritt darfst du dich mehr von deinem Werk entfernen. Viele, deren Gegröle heute auf den öffentlichen Plätzen der Literatur zu hören ist, brauchen nicht Kritiker, sondern Pfleger.
    »Ich habe es nicht gewollt!« Das ist wahr. Aber ich habe es geduldet; und auch das ist wahr.
    Die Möwe will nicht, kann nicht abheben: Irgendein schwerer, schlammiger Erdenstoff klebt an ihren Flügeln.
    Ich schreibe den Roman mühsam und todmüde, zerlege ihn in winzige Teile und bearbeite die Teile, so nähere ich mich stockend, Zentimeter für Zentimeter dem Sinn der einzelnen Abschnitte. Ich habe das Gefühl, dass das Ganze unbedeutend und zudem unehrlich sei, das größte Problem und Übel ist jedoch, dass es keine Musik hat, nicht schwebt … Diese Möwe watschelt auf der Erde wie eine Trappe oder eine Gans.
    Der gleiche Widerstand in allem, was ich schreibe, sowohl in den Zeitungsartikeln als auch in diesen Tagebuchaufzeichnungen. Aber auch ein fester Entschluss, ein Wille, stärker als meine Schwäche und Verzagtheit, mich nicht an den Mast dieses in Sturm geratenen Schiffes fesseln zu lassen, diesen seltsamen Kampf, diese erste große Krise meines Lebens, die Krise des verlorenen Glaubens, des Glaubens an meine Arbeit, bis zum Letzten auszufechten. Bloß nicht, keine Sekunde der Versuchung nachgeben. Lieber auf der Stelle, zwischen zwei schlechten, dumpfen Sätzen, verrecken.
    Die Chroniken von Paul Morand , in einem Band. Ein mittelmäßiger Schriftsteller, der für Ereignisse, die Beute eines Journalisten, nichts übrig hat und für den Erlebniswert eines Ereignisses, das Lebenselement eines Schriftstellers, blind ist.
    Auf der Straße, in der Straßenbahn, wo ich auch bin, starren mich die Menschen mit offenem Mund an, als sei ich ein Gespenst. Sie hatten mich anscheinend schon beerdigt, und jetzt sind sie ein bisschen beleidigt, weil ich doch noch am Leben bin.
    Antonius und Cleopatra kannte ich bisher noch nicht. Das ist der ganze Shakespeare, der entsetzliche, der alles überstrahlende. Spott, Klugheit, Galgenhumor, ein erstaunliches Wissen über das Leben und die Bühne; ich lese es mit offenem Mund, als lernte ich über den schon bekannten Shakespeare hinaus einen neuen kennen, der alle und alles überragt. Zwei Charakterbilder: der junge Octavian beim Gelage auf dem Schiff und Antonius, als er sich senil zum Handeln entschließt und wieder in die glitschigen sexuellen Bande der alternden Cleopatra verstrickt: Mehr ist mit Menschen auf der Bühne nicht möglich.
    Wie in all seinen Dramen missachtet er auch hier die geschichtliche Zeit; er verdichtet nur die dramatische Zeit.
    Pázmány hob die ungarische Prosa in bis dahin unbekannte Höhen; doch bald darauf begannen auch die Besten zu plaudern und zu schwatzen, tauschten das üppige Gold dieser Prosa in bequemes Kleingeld um. Nach Pázmány klingt die düstere Kraft der ungarischen Sprache in ihrer ganzen Authentizität erst wieder und nur ein einziges Mal in den Gedichten Vörösmartys an.
    Der ungarischen Prosa die von Pázmány erreichte Authentizität der Sprache, ihre Kraft, ihre Musik, ihre spezifische Wort- und Satzverbindung zurückgeben … darauf warten alle, die ungarische Bühne, die Literatur, die Politik. In Pázmánys Sprache ließe sich nicht so leicht lügen.
    Die Jugend verabschiedet sich ganz unsentimental. »Also, servus, Alter«, spricht sie, reicht einem die Hand. Und geht.
    Die Erinnerung an das Morphin und Dolantin , wenn mich die Krankheit in meinen Träumen heimsucht.
    Das ist gewiss nicht die schlimmste Art, zugrunde zu gehen: Es gibt kluge und disziplinierte Morphinisten, die über eine lange Zeit hinweg unauffällig, mit dosierten Spritzen leben. Wenn man nichts mehr von der Welt will – weder geben noch bekommen –, ist das Morphin sicherlich eine Lösung. Aber eines ist gewiss: Wer sich zu dieser Lösung entschließt, hat die Arbeit, die Kreativität, jede Art verantwortliche und moralische zwischenmenschliche Beziehung aufgegeben. Und doch wird

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