Tagebücher 01 - Literat und Europäer
Gewissen, die erzieherische Funktion des Buchstabens gebieten. Es bleibt mir nichts anderes übrig. Vielleicht stellt dieses Opfer meine »bürgerliche Lebensordnung« auf den Kopf – aber ohne Opfer gibt es keine Aufgabe. Ich bin zum Schriftsteller geboren, das ist alles. Und das muss man eines Tages, wie es scheint, in aller Konsequenz auf sich nehmen.
Bernanos’ Roman Tagebuch eines Landpfarrers . Auf jeder Seite der reine Atem eines großen Werkes. Ich habe seit Wilders Die Brücke von San Luis Rey in keinem zeitgenössischen Buch mehr eine solche Einheit gespürt, den gemeinsamen Atemzug von Autor und Thema.
(Abendessen mit X . und seiner Frau. Sie kommen gerade aus Italien, wo man jeden Augenblick mit geneigter Ungeduld die Invasion erwartet. »Italien erinnert sich wie eine Frau an Mussolini«, sagt Frau X ., »als an den Mann, der sie seit der Antike am heftigsten umarmt hat. Das Land, das er umarmte, erkrankte daran, er nahm seiner Geliebten den Schmuck weg; und doch war es herrlich!«)
Der Sinn von Bernanos’ Roman liegt in dem Satz: »Die Hölle beginnt dann, wenn wir nicht mehr lieben.«
Aber in der Gestalt des Romanhelden, dieses an Magenkrebs leidenden jungen Pfarrers, ist in Wirklichkeit »Gott erkrankt« – wie das laut Blüher die Griechen vor Hippokrates glaubten.
Der einzige Held in Virginia Woolfs Roman Die Jahre ist das Leben, also nichts und niemand. Die unzähligen Figuren, Ereignisse, Schauplätze, Kulissen, die von der Zeit verschoben und bewegt werden, sind bloße Anhängsel dieses seltsamen Helden, den es nicht gibt, der, obwohl er ständig erscheint, im Roman doch fehlt. »Das Leben« lässt sich nicht beschreiben, immer nur ein Gegenstand, ein Mensch, ein Gefühl … Ich habe das Gefühl, dass sie das Unmögliche versucht hat, und schätze ihre Bemühungen umso höher ein. Und wie üppig, wie verschwenderisch sie dieses Nichts aufbaut!
Ich habe gestern Abend seit sechs Monaten zum ersten Mal wieder Wein getrunken; nicht viel, vielleicht einen halben Liter; ich merke keinerlei negative Auswirkung, und dennoch bin ich mir sicher, dass Wein mir schadet, meinen Körper und meine Seele in Gefahr bringt. Schade. Es steckt eine große Kraft im Wein, er kann einem eine Art schmuddeliges Glück bescheren. Vielleicht werden mir das Leben und meine Natur eines Tages auch das nehmen, mich zu Nüchternheit und Disziplin verurteilen. Aber dieses Urteil wird ernst sein, und ich werde mich nicht dagegen auflehnen.
So schreiben, dass sich, selbst wenn man nur einen Gegenstand oder das Äußere einer Figur beschreibt, stets in jedem Detail irrlichternd wie eine Fata Morgana das ganze Leben und die ganze Vision spiegeln. Stets von der ganzen Welt, dem ganzen Leben schreiben.
Ich lese die Schriften Pascals in der Auswahl von Mauriac. Wenn er betet, kann ich ihm nicht folgen; wenn er denkt, passe ich dankbar auf. »Das Wunder des Kleinen ist genauso groß wie das Wunder des Großen« – auf diesem Satz basiert die Pascalsche Weltsicht. Betrachtet er das Universum durch dieses Fernrohr, sitze ich gern mit aufgestützten Ellbogen neben ihm.
Aber die »große Nacht« … die große Nacht Pascals! Was geschah damals? Offenbarte sich ein Wunder oder eine Geisteskrankheit? Freilich, auch eine Geisteskrankheit kann ein Wunder sein. Der eine landet nach einer solchen Nacht im Sanatorium, der andere wird zum Heiligen, der Dritte zu Pascal.
Der abendländische Bolschewismus namens Besteuerung erhebt sich mit unerbittlicher Konsequenz über die bestehenden brüchigen Rechtssysteme. Der abendländische Mensch verwandelt sich in den Geldeintreiber des Staates.
In Wirklichkeit sündigt der Mensch nicht durch das, was er sagt oder tut; die Erbsünde des Menschen besteht darin, dass er ist. Das ist unverzeihlich.
Ich bekomme unerwarteten Besuch von H ., ganz in Schwarz. Es fehlt nur noch das Verdienstkreuz an seiner Brust. Ein reiner Höflichkeitsbesuch; aber er sieht sich in meinem Zimmer um wie ein Detektiv.
Was ihn schmerzt – der Verrat an seinem Talent –, ist durch Verdienstorden, Geld und Erfolg nicht wiedergutzumachen. Vielleicht glaubt er, dass ich glücklicher bin, da ich bisher stets die Kraft gehabt habe, meiner Arbeit treu zu bleiben. Nur ich kenne meinen Verrat, meine Unzufriedenheit, nur ich weiß, wie wenig ich dem gedient habe, was, wie ich wohl weiß, allein wert ist, dass man ihm dient! Wir sprechen über Menschen, über Krankheiten. Wir sprechen über etwas anderes. Ständig sprechen
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