Tagebücher 01 - Literat und Europäer
wie Platon die beiden eifersüchtigen alten Gelehrten Sokrates und Protagoras beschreibt; wie sie einander neidisch und argwöhnisch beschnüffeln, wie sie sich mit dem Anschein der Bescheidenheit aufplustern, wie Sokrates unter dem Vorwand der Wahrheitssuche vor Gott und der Welt zu beweisen versucht, dass der eben erst in Athen eingetroffene sophistische Schriftsteller Protagoras ein schlechterer Schriftsteller und auch weniger weise als er selbst sei, er, der arme, bescheidene Sokrates, der nichts schreibt und auch gar nicht weise ist, und wenn er vielleicht doch ein klein bisschen weise ist, dann nur deshalb, weil er weiß, dass er nichts weiß … Diese naiv-listige Eifersüchtelei, die ewig gekränkte Eitelkeit des beruflichen Ehrgeizes, ist hinreißend. Nein, Sokrates und Protagoras werden es nie zur gleichen Zeit am selben Ort aushalten, weder in Athen noch in der Welt. In tiefer Demut und Unterwürfigkeit zerredet Sokrates das Ansehen des mit ihm rivalisierenden Fremdlings, genauso wie die heutigen Schriftsteller in literarischen Cafés oder Gelegenheitszeitschriften Ehre und Ansehen ihrer Zeitgenossen zerreden. Die Welt wird sich vielleicht ändern, auch die Literatur wird sich vielleicht ändern, aber die Gelehrten werden sich nie ändern.
Zwei Tage, in denen ich nicht in der Lage bin, mich auf meine Lektüre zu konzentrieren. Eine Schraube funktioniert nicht, der atmosphärische Druck beschwört irgendwo in der Welt eine Katastrophe herauf, und in irgendeinem Gehirnmark vermag der Mechanismus weder die Worte Platons noch die Zeitungsnachrichten mehr aufzunehmen. In diesen zwei Tagen lese ich Geschichte, erlebe ich Geschichte: Die Engländer haben Sizilien angegriffen. In diesen Tagen entscheidet sich auf sehr lange Sicht das Schicksal des Kontinents, zu dem ich gehöre. Ich lese, arbeite so viel wie möglich, immer nach der Uhr, wie ein Wahnsinniger, der selbst dann noch an seine fixe Idee glaubt, wenn die Welt um ihn herum schon einstürzt. Und ich glaube, dass dieser Wahnsinnige in mir und in allen Menschen, der in diesen Tagen gewissenhaft seine Pflicht, seine Aufgabe erfüllt, recht hat. Sizilien, Europas Schicksal, der Angriff der Engländer, das alles wird vergehen. Der Gedanke und die Arbeit werden bleiben. Ich schalte das Radio aus, das gerade die Eroberung von Syrakus durch die Besatzer verkündet, und setze mich wieder an meinen Tisch, um Platon zu lesen und zu arbeiten. Und ich empfinde das weder als Flucht noch als eine vorgebliche Verhaltensweise. Vorgeblich wäre es, wenn ich in Begeisterung ausbräche, weil diese oder jene Partei Sizilien oder Vámosgyörk erobert hat. Das ist Sache der Welt. Meine Sache ist es, mithilfe von Subjekt und Prädikat Begriffe aneinanderzufügen – auch dann, ja gerade dann, wenn die Welt am Einstürzen ist.
Es wird Zeit, dass ich mir den Gebrauch von Anführungszeichen abgewöhne. Ich habe mir das vor zehn, fünfzehn Jahren angewöhnt, als meine Sinne mir sagten, dass das Gehör der lesenden Massen immer mehr abstumpft, und die ironische beziehungsweise sachliche Betonung eines Attributs oder Adjektivs zum besseren Verständnis durch Anführungszeichen gekennzeichnet werden sollte. Aber es ist schließlich nicht meine Aufgabe, für Leute ohne Gehör zu schreiben – sollen doch die Elenden hören lernen, wenn man es schon geschafft hat, ihnen das Abc einzutrichtern.
Als durch die Krankheit alles in unwirkliche Ferne gerückt war und ich manchmal das Gefühl hatte, dass alles, was mich in der Zeit meiner Gesundheit gequält, beunruhigt hatte, was mir nahe gewesen war, wonach ich mich gesehnt, worauf ich mich gefreut, wovor ich mich gefürchtet hatte, nicht mehr existierte, wusste ich natürlich, dass dieses Gefühl nur ein krankheitsbedingtes Trugbild ist. Mir war klar, dass mit der Genesung auch diese Sehnsüchte, Beunruhigungen und Ängste zurückkämen und das Leben resolut und unabwendbar die richtigen Abstände wiederherstellen würde.
So geschah es auch … und doch nicht ganz so. Alles ist zurückgekommen, die Sehnsucht, die Angst, die misslichen Situationen; aber nicht mit der gleichen Heftigkeit. Habe ich eine Entscheidung zu treffen, treffe ich sie jetzt ruhiger, ohne Angst, sehne ich mich nach etwas, sehne ich mich ohne tragische Gier danach und bin nicht beleidigt, wenn sich meine Sehnsucht nicht erfüllt. Ein gewisser Abstand ist doch geblieben, zwischen mir und der Welt. Das ist der Krankheit zu verdanken; das und noch vieles mehr.
Platon ist
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