Tagebücher 01 - Literat und Europäer
der größte »Plauderer«. Er redet über die bedeutungsvollsten Dinge wie ein guter Feuilletonist von heute: von ganz nah, mit den einfachsten Worten, wunderbar geschliffen und leicht. Phaidros und Sokrates diskutieren in einer Art und Weise über die Liebe, als habe ihnen ein guter französischer Lustspielautor – der auch Mitglied der Akademie ist – die Worte in den Mund gelegt.
X . ist kleinmütig. Er ist eitel und eifersüchtig, weil ihm die Schaffenskraft fehlt, aber er verfügt über eine stichwortartige Bildung, die in seiner Seele nie zu einem echten Erlebnis heranreifen, sich weder in kreative Kraft noch in ein bestimmtes Lebensgefühl verwandeln konnte.
Man hat meinen Hund an der tierärztlichen Klinik untersucht, durchleuchtet … ja, er ist herzkrank. Das Digitalis spuckt er wieder aus, er verabscheut es. Ist auf eine so kluge und edle, so weise Art krank! Er hat sein Leben gelebt, sein Schicksal hat sich erfüllt, er akzeptiert die Krankheit und den Tod. Er sehnt sich nur noch nach Zärtlichkeit; er hält seinen Kopf mit einer flehenden Geste an meine Hand, bittet mich, ihn zu streicheln. Er quengelt nicht, er trägt sein Schicksal stumm und für sich. Er ist herzkrank und wartet auf den Tod.
In immer fröhlicherer Distanz zur Welt und immer wirklicherer Nähe zu Gott: Darin liegen Sinn und Erfahrung des Alterns.
Ich könnte aus La Rochefoucaulds fünfhundert Maximen fünfzig herausdestillieren, aus denen nicht die Gattung, sondern der Schriftsteller und erfahrene, schöpferisch begabte Mensch spricht. Bei zu viel Routine läuft die Maxime Gefahr, sich gleichsam durch Selbstteilung und krankhaftes Sprießen selbst zu vermehren, wie Algen oder Aufgusstierchen.
Der hiesige Astrologe – ein alter Ingenieur und Mathematiker – ist felsenfest davon überzeugt, dass es den freien Willen gibt, dass es möglich ist, durch gewisse Spalten hindurch unser Schicksal zu schauen. Es gibt seines Erachtens drei Ereignisse, an denen der menschliche Wille nichts ändern kann: die Geburt, den Tod und die schicksalhafte Partnerwahl. Zwischen den Ecken dieses Dreiecks kann ein bewusst lebender Mensch über sein Schicksal verfügen.
Er kann aus freiem Willen die Straße überqueren, ein Versprechen geben oder halten … Ist das viel oder wenig? Für den Menschen viel, doch in Anbetracht der Gegebenheiten der Welt ist alles, was wir wollen oder tun können, nichts.
Abends mit Lehrer R . Er erzählt von den Experimenten von Sz . , der mithilfe irgendeiner geistreichen – vielleicht allzu geistreichen – Methode eine Gesetzmäßigkeit in der Partnerwahl zu entdecken und sie dadurch zu erklären versucht. Wenn jemand beispielsweise eine Taubstumme heiratet, muss es in seiner Familie schon einmal einen Taubstummen gegeben haben und so weiter. Ein solcher Rückbezug in Geschmack und Neigung sei gesetzmäßig, so Sz . Das rezessive Element sei bei der Partnerwahl stets stärker als die konstitutiv dominanten Eigenschaften des Wählenden. Kreuzt man eine schwarze Ratte mit einer weißen, wird vielfach die schwarze durchschlagen, aber in irgendeinem der Nachkommen wird wieder die weiße zum Vorschein kommen.
Das klingt gefällig, zumal es in der Vergangenheit einer jeden Familie, wenn man ihre Vorfahren bis Abraham zurückverfolgt, irgendwann einmal sowohl Taubstumme als auch Raubmörder als auch Linkshänder und so weiter gegeben hat. Die Frage ist nur, aus welcher Generation die Eigenschaften der Ahnen noch durchschlagen können? Aber diese Frage bleibt vage; die gewählten Beispiele hingegen sind stets gefällig in ihrer Willkürlichkeit.
Europica Varietas von Márton Szepsi Csombor , einem Schulmeister aus Kaschau, aus dem Jahr 1620 … Der erste ungarische reisende Feuilletonist. In der Stadt Graudenz macht er die folgende volkskundliche Beobachtung: »Eine wundersame Art der Menschentötung herrscht in diesem Ort. Der Schuldige wird nach Judenart auf ein Kreuz gebunden, unter ihm viel tierischer Dung angezündet, der Henker besprengt ihn mit Wasser, damit er länger leidet, damit ihn der Rauch erst nach und nach tötet. Wer geköpft wird, wird neben dem Galgen begraben, sein Kopf auf einen Pfahl gespießt.«
Man beachte die feine Nuance: »der Henker besprengt ihn mit Wasser, damit er länger leidet«. Wirklich phantasievoll waren die Menschen stets nur, wenn es um Folter und Vernichtung ging. Da achteten sie auf jede Nuance.
Ich lese Szekfűs Rákóczi in der Verbannung . Aus dem Abstand von dreißig,
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