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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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ausgeliefert ist wie ein Kiesel, den das Meer hin und her wendet und wirft.
    Der Nervenzustand, den man Liebe nennt, will weder »geben« noch »bekommen«. Ein Nervenzustand will einfach seinen Verlauf nehmen: Das ist alles.
    Es ist im Allgemeinen ratsam, unsere Werke erst zu schreiben, bevor wir etwas verteidigen, erläutern und belegen, was wir noch gar nicht geschrieben haben.
    Auch der größte Gedanke bleibt ein Gemeinplatz, wenn er nicht von diesem spezifischen Zungenschlag begleitet wird, in dem jenes innere Wesen zum Ausdruck kommt, das noch wichtiger als der begriffliche Gehalt ist.
    Abends auf dem Széchenyiberg : Zum ersten Mal seit sechs Monaten mache ich ein paar Schritte – von der Endstation der Zahnradbahn bis zum Aussichtsturm – und entdecke von Neuem die Freuden der Bewegungsfreiheit. Es ist ein lauer und windiger Abend; ich fahre im Taxi den Berg hinab, bewundere die gleichgültige Schönheit der Welt, bin voll Ruhe und Dankbarkeit.
    Auch in mir spielt sich die Welt ab, nicht nur in Raum und Zeit. Auch ich bin Volumen.
    Mein Hund ist krank; er ist alt, er leidet an Asthma und Herzerweiterung; er ist traurig und sucht Hilfe, er frisst nicht, er trägt und erwartet sein Schicksal … Nur wenige Lebewesen sind mir in den vergangenen elf Jahren so ans Herz gewachsen wie dieser weiße Hund. Es ist nichts Außergewöhnliches, dass man ihn der Welt, aus der er für einen Augenblick hervorgegangen ist, zurückgeben muss; aber das Bewusstsein des Verlustes ist ein Teil von mir, des Menschen; dieses Bewusstsein, diesen ständigen Verlust, dieses hoffnungslose Dahingehen von allem, wozu wir einen Bezug haben, bewusst und vernünftig zu ertragen: das ist wahrlich eine übermenschliche Aufgabe.
    Jede Übertreibung, jeder Überschwang ist gefährlich, auch die übertriebene Sympathie. Menschen, die sich einem auf dem hohen C nähern, werden ob ihres Gefühlsüberschwangs plötzlich innehalten und beschämt, in ohnmächtiger Wut loskreischen.
    Platons gesammelte Werke, auf Ungarisch; eine große, bewegende Leistung. Wenige Nationen – nicht einmal die großen – können von sich behaupten, in diesem Krieg auch so etwas vollbracht zu haben.
    Nachts lese ich Sokrates’ Reden vor den Richtern. Die Übersetzung ist angenehm, nicht störend. Welch reine Luft diese einfachen Zeilen verströmen … und welch klassische Hoffnungslosigkeit!
    Ich bekomme am Nachmittag Jenő Heltais Umdichtung von Lumpazivagabundus und lese sie im Café in einem Zug aus. (Das Buch ist »im Selbstverlag« erschienen, und das ist wirklich eine Schande – Heltai ist ein hervorragender Schriftsteller, ein bescheidener und maßvoller Künstler, seine Sätze haben einen präzisen Rhythmus, seine leicht dekadente, überbordende Heiterkeit schimmert durch jedes seiner Worte hindurch, und doch dürfen die Bühnen seine Werke nicht spielen, die Verleger seine Bücher nicht herausgeben!)
    Lumpazivagabundus , so wie er von Nestroy und Heltai geschrieben wurde, ist eine Burleske und hat als Gattung somit – wie Heltai in seinem Vorwort klug schreibt – mehr Aussicht auf Unvergänglichkeit als ein Lustspiel oder ein Drama. Das Stück ist eine sanfte Burleske, die Österreichisches und Budapesterisches mit etwas Französischem mischt – als sei Molière ein österreichischer Staatsbeamter, der seine Werke in einem Budapester Café schreibt.
    Ich lebe die ganze Zeit inmitten von Wundern. Wie blind bin ich doch manchmal, dass ich sie nicht bemerke, nicht wahrnehme! Lauter Wunder, die Wunder der Zusammenhänge, die Wunder der Wiederholung, die Wunder der Ordnung … Dinge, Menschen, Situationen gehören in so wunderbarer Weise zu mir, und ich gehöre nach einer ebenso wunderbaren Ordnung, einem ebenso wunderbaren System zu allem anderen! Wunder, lauter Wunder.
    Aber innerhalb des Wunders gibt es einen Augenblick – so scheint mir –, in dem Gott mich allein lässt, die Entscheidung mir überlässt. Das ist der Augenblick meiner Verantwortung. Diese Verantwortung verleiht dem menschlichen Leben seinen tragischen Sinn.
    Wir wissen nie, was Gott durch uns sagen will! Die Möwe hat sich jetzt, da ich den Schluss schreibe, in einen Roman über das Problem einer individuellen Persönlichkeit verwandelt – darin lag der einzige Sinn des Themas, dorthin musste ich über die »Handlung« gelangen, logisch und konsequent. Hatte ich das so geplant? Nein, Gott hatte es für mich geplant, als er mir befahl, diesen Roman zu schreiben.
    Es ist hinreißend,

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