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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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vierzig Jahren ist es unbegreiflich, warum sich einst die ganze Nation über dieses Buch empörte. Der Verfasser wurde seinetwegen beinahe selbst verbannt.
    Heute gilt es als eine der unbestrittensten Quellen der offiziellen Geschichtsschreibung. Die Menschen lassen sich fast genauso schnell zu den Wahrheiten bekehren, wie sie sich einst über sie empört haben. Man darf nicht mit ihnen streiten. Man muss sie bilden, allen Gefahren zum Trotz, man darf nicht auf ihr Getöse hören: weder wenn sie ihren Lehrer in die Verbannung treiben noch wenn sie ihn beweihräuchern.
    Eine echte Buddhastatue in der Wohnung eines Freundes. In Bronze gegossen lächelt die bauchige Gestalt mit ihren großen Brüsten, ihrer beunruhigend gleichmütigen Miene, der Gefühllosigkeit des Metalls und der Idee von Leben und Tod.
    Lange betrachte ich neidisch und ehrfürchtig das gleichgültige Lächeln des glänzenden bronzenen Gesichts. Diese dicklich-souveräne Ruhe könnte natürlich als Ideal dienen, wenn … Aber was macht Buddha, der Souveräne, wenn er zum Militär einberufen wird? Oder in ein Arbeitslager geschickt wird? Oder ihm die Steuern alles wegnehmen? Oder sein Kind hingerichtet wird? Oder die Kirche zerbombt wird, auf deren Altar er so souverän lächelt? Oder ihm ein Feldwebel einen Tritt in den Hintern versetzt? … Denn auch ihm kann so etwas passieren. Bleibt er auch dann so souverän? So gleichgültig? So heiter lächelnd? … Wenn ja, dann ist er wirklich ein Gott.
    Man vergesse nicht, dass in einer der vollkommensten menschlichen Gemeinschaften, die es je gegeben hat, im Athen von Perikles, Platon und Sokrates, wo die Lebensform der ganzen Gemeinschaft auf Kultur beruhte und selbst die Töpfer Tanagra-Figuren herstellten, Sokrates zum Tode verurteilt wurde. Wenn auch durch Stimmenmehrheit. Aber ebendiese »Stimmenmehrheit« ist stets stärker als die Kultur.
    Lockt mich die Welt wirklich noch, das Erlebnis der Sinne, Peking, Lissabon oder Ragusa? … Ich höre ihren Lockruf noch, aber ich höre auch eine andere, nicht minder verlockende Stimme: die Stimme des eigenen Heims, der Bücher, der Arbeit und Gottes. Wie es aussieht, werde ich doch schon alt.
    Wenn ein Schriftsteller bewusst schweigt – also nicht aus Faulheit oder Unvermögen, sondern mit Absicht, mit pädagogischem Vorsatz –, wirkt sein Schweigen fast beunruhigender auf die Menschen als alles, was er je zuvor gesagt hat.
    Der schönste Beweis für den allgemeinen und unabänderlichen Hang des Menschen zum Sadismus ist die Erfindung der Hölle in allen Religionen, besonders in der christlichen Vorstellungswelt. Die Hölle, wo die »Bösen« bis in alle Ewigkeit kochen und braten, bis ans Ende der Zeiten, für Sünden, die sie in der Zeit begangen haben, und deren Folgen, und seien sie noch so schrecklich, in der Zeit vergehen. Die Strafe jedoch, durch Schwefel, Pech, siedendes Öl: Sie ist ewig. Und auf den mittelalterlichen Darstellungen beobachten die »guten Seelen« im Vorhof der Hölle, auf die Balustrade gelehnt, mit zufriedenem Lächeln die unten schmorenden und schmachtenden »bösen Seelen« … Diese christliche Gerichtsbarkeit ist die metaphysische Dimension des Sadismus.
    Ich habe bisher dreiundvierzig Jahre gelebt. Und wenn ich noch einmal so lange lebe? Und sechsundachtzig bin? Werde ich dann mehr wissen? Glücklicher sein? Mehr Gewissheit über Gott und Mensch, das Natürliche und das Übernatürliche haben? Ich glaube nicht. Erfahrung bedarf der Zeit, aber jenseits eines bestimmten Grades der Erkenntnis vertieft die Zeit die Erfahrung nicht mehr. Ich werde einfach älter werden, nicht mehr und nicht weniger.
    Abends in der Gesellschaft eines dummen Menschen. Er ist zutiefst dumm und leicht blutrünstig. Seine Dummheit hat Pathos, einen Stil, den er nie ablegt. Er ist belesen und schildert auch seine Erfahrungen mit der makellosen Dummheit eines großen Künstlers, der auf der Tastatur nie danebengreift.
    Louis Jouvets kluges, liebevolles Geplapper in einem Buch über das Theater. Er hat recht: Es gibt kein »Theaterproblem«. Es gibt nur den Dichter, der seine Vision in dramatischer Form erzählt. Alles andere ist künstliche Bedingung, handwerkliche Kondition.
    Am Anfang war Gott und das Wort, also der Dichter. Dann begann jemand unter Menschen das Wort zu sprechen. Das war die Geburt des Theaters. Und mehr tun die Schauspieler auch heute nicht: Sie sprechen und sprechen mit religiöser Andacht, was der Dichter erträumt und in Worte gefasst

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