Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
Vom Netzwerk:
doch glücklich gewesen ist. Der Mensch ist dann glücklich, wenn er – stets unbewusst – mit den Kräften der Schöpfung in Verbindung steht. Manchmal im Bett, manchmal in der Werkstatt … die Natur ist nicht wählerisch, wenn sie eine Bühne für ihren Schöpfungsakt sucht.
    Ich stoße in einem Antiquariat auf eine von Mátyás Trattner wunderschön gedruckte, in französisches Leder gebundene, voluminöse späte Károlyi-Bibel von 1805 … und kaufe sie natürlich. (Bisher besaß ich nur die Luther-Bibel , auf Deutsch.)
    Ich schlage sie in der Nacht aufs Geratewohl auf, wie es sich gehört, und lese in den Offenbarungen des Johannes über die Apokalypse. Eine zeitgemäße Lektüre. Den Antichristen kann – so hatte es auch Goethe in Dichtung und Wahrheit gelehrt – nur die Welt selbst besiegen, der er den Kampf angesagt hat. Nemo contra Deum, nisi Deus ipse .
    Die Menschen bewegen sich innerhalb ihres eigenen Schicksals, unabhängig, fast unberührt von dem, was in der Welt passiert.
    Im Café tritt D . an mich heran, verjüngt, braun gebrannt, gesund. »Warst du im Urlaub?«, frage ich. So verändert wirkt er seit unserer letzten Begegnung! »Nein«, erwidert er, »ich habe zehn Monate an der russischen Front verbracht, in vorderster Linie.«
    Am Ende des vierten Kriegsjahres, während die Stadt, in der ich wohne, und noch vieles mehr, meine Angehörigen und auch ich selbst binnen vierundzwanzig Stunden vernichtet werden können, fühle ich mich ruhig wie selten zuvor in meinem Leben. Ruhig, fast zufrieden; ich arbeite, und nur das, worauf ich Lust habe; es gibt nichts, was ich von der Welt verlangen, worum ich sie beneiden würde … Ich bejuble das schöne Wetter, einen Teller Himbeeren, einen klugen Satz in einem Buch. Pascal hatte recht, der Mensch ist ein Ungeheuer. Nein, Pascal hatte nicht recht: Der Mensch ist etwas Großartiges.
    Gyula Illyés’ Petőfi hat mich nicht davon überzeugt, dass Petőfi nicht ebenso eitel und ehrgeizig war, wie er ein Dichter und Revolutionär war. Sein krankhafter Hochmut, seine rastlose Eitelkeit, seine schlechten Manieren, seine arrogante und hochnäsige Unduldsamkeit, seine grenzenlose Überheblichkeit; das sind Tatsachen, und wenn ihn Illyés noch so sehr in Schutz nimmt. Seine Zeitgenossen erkannten in diesem Genie, das einer der größten Dichter der Weltliteratur war, zu Recht den eitlen, schwachen, gemütskranken, gefährlich egoistischen Menschen. Diese großen Egoisten steigen natürlich auch aufs Schafott, wenn es ihre Eitelkeit verlangt … und das tat gewollt oder ungewollt auch Petőfi, der wie jeder Krakeeler in Wahrheit ein Feigling war.
    So weit das eine Profil der »authentischen Daguerreotypie«, wie sie uns überliefert ist. Das andere ist Petőfi , der Dichter von »Puszta im Winter«, »Feentraum« und »Septemberausklang«; und von all den anderen Gedichten, die er geschrieben hat, von allen.
    Die Eifersucht, mit der er sich gegen den schüchternen, mädchenhaften Jókai wendet, als dieser der martialischen Róza Laborfalvy in die Hände fällt, weist Elemente einer latenten unbewussten Homosexualität auf.
    Eine hinreißende Taschenbuchausgabe von La Rochefoucaulds Maximen , in der Gestaltung des Genfer Milieu du monde. Diese Maximen wurden Mitte des letzten Jahrhunderts von einem Onkel von mir aus Zombor sorgfältig und geistreich ins Ungarische übersetzt und herausgegeben.
    Der große Haudegen, Kämpfer und Abenteurer war schon über sechsundvierzig Jahre alt, als er beschloss, Moralist zu werden. Da wusste er genug, um über das Leben zu reden, und konnte schon zu wenig, um es zu leben. Wie er selbst sagt: Die Alten belehren durch gute Grundsätze, wenn sie nicht mehr durch schlechtes Beispiel belehren können.
    Er formuliert perfekt. Alle Beschwichtigungsversuche Madame de La Fayettes vermochten die knisternde Kritik an den Zeitgenossen nicht zu neutralisieren. Alles, was die gnädige Dame erreichte, war, dass er das Urteil »toujours« zuweilen durch ein vorangestelltes »presque« abmilderte … Aber sein Verdikt über den Menschen bleibt auch so unerbittlich.
    Was wusste dieser vornehme französische Herr dreihundert und ein paar Jahre vor Freud nicht alles über das Bewusstsein und das Unterbewusste! Über Charakter und Instinkt, Geschlecht, Sexualität, Eitelkeit, Egoismus, Irrtümer! Er weiß alles, und er weiß auch, dass der Mensch trotz seines ganzen Wissens und seiner ganzen Erfahrung der Wirklichkeit genauso lächerlich

Weitere Kostenlose Bücher