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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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hat. Alles andere ist Zirkus, Bestien, Kritiker und Agioteure.
    Von der Langeweile erzählen, spannend wie ein Detektivroman.
    Seit drei Tagen wieder große Schmerzen. Vielleicht eine Folge des Schirokkos, vielleicht einer Revolte im geschädigten Nervensystem. Aber ich, der ich den Schmerz habe, revoltiere nicht mehr.



T his above all , ja: Sich selbst treu bleiben. Wie leicht wäre das, wenn man es nur zuließe, und wenn ich nur wüsste, wer ich bin.
    Ich schreibe Gedichte . Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren.
    Lektüre am Neujahrstag: József Révay, Spaziergänge im römischen Ungarn .
    Das Thema des Buches ist fesselnd, gerade heute. Wie alt ist diese Scholle, auf der ich lebe? Genauso alt wie die Erinnerung an die Menschen, die es durchstreift haben. Kelten, Markomannen, Jazygen , Römer, ihr Bewohner von Carnuntum , Scarbantia , Savaria , Aquincum , wo seid ihr? – könnte ich als treuer Schüler Mark Aurels fragen. Wie viele und wie unterschiedliche Schicksale birgt dieses alte Land, das Land Pannoniens und Dakiens? Wie vielerlei Arten von Kulturen? Ja, es ist ein altes Land. Auch mich wird seine Erde einst bedecken; ich werde nicht allein sein und vielleicht nicht einmal in schlechter Gesellschaft.
    Schreiben wie ein Verurteilter, der vor der Hinrichtung mit dem Recht des letzten Wortes spricht? Nein, das wäre übertrieben. Schreiben kann man nur unter den Bedingungen des Schreibens und nur, solange diese Bedingungen gelten. Also nicht im Bewusstsein der »Zeitenwende« schreiben. Im Bewusstsein alles dessen schreiben, was du über das Schreiben, den Stil, die menschlichen Dinge weißt; also einfach wie auch gekünstelt, als sei es dein letzter Augenblick, aber auch als hättest du noch ganz viel Zeit: mindestens so viel, wie nötig ist, um das, was du zu sagen hast, nach allen Regeln des Schreibens zu sagen. Anderenfalls solltest du nicht schreiben, höchstens Flugblätter.
    Mein Hund Jimmy hat am Morgen eine schwere Herzattacke, wir rufen den Arzt, er bekommt eine Spritze und beruhigt sich. Davor ringt er stundenlang röchelnd mit dem Tod. Seine Schnauze verändert sich genauso wie das Gesicht eines Sterbenden: Die Nase wird auffallend lang, sein Maul färbt sich an den Rändern blau, auf der liebenswerten Hundeschnauze macht sich das Facies hippocratica breit. Er kann sich wegen der Schmerzen, die ihm die Atemnot und die Erstickungsanfälle bereiten, nicht setzen, steht nur stundenlang da und röchelt … Ich habe das schon oft gesehen. So starb mein Vater, so mein Sohn.
    Wie schwer ist es doch zu sterben!
    In Ungarn gibt es keinen Salon und keine wirkliche Gesellschaft; es gibt nur arglistig grinsende Klassen und ein Gesellschaftsleben, das meist eine hinterhältige Variante des Klassenkampfes ist. Deshalb bleibt einem Schriftsteller nichts anderes übrig, als in die Einsamkeit zu emigrieren, in die dichteste, bewussteste Einsamkeit. Wer das nicht tut, findet sich eines Tages auf den Barrikaden wieder oder – schlimmer noch – in einem literarischen Café.
    Ich habe den Roman Die Schwester begonnen; ich fühle, dass es seit Jahren mein erster wirklicher Roman ist – auch der Gattung nach ein Roman – und dass ich darin alles sagen kann, was ich heute zu sagen habe.
    Das Problem mit der »ersten Person Singular« in einem Roman ist, dass sie eine fromme Illusion bleibt. Es gibt keine erste Person Singular, es spricht stets der Roman, wenn es ein echter Roman ist; ob durch die Maske des Schriftstellers oder durch die des Romanhelden, spielt keine Rolle.
    Die Russen, der Bolschewismus, die Verantwortung des Einzelnen … Also gut, antworten wir.
    Ich habe nie andere für mich arbeiten lassen, nie vom »Profit« der Arbeit anderer gelebt. Ich habe nur mich selbst arbeiten lassen, von früh bis spät, und nie einen Heller bekommen, den mir das Publikum nicht aus freien Stücken für meine Arbeit bezahlt hätte. Das ist die Wahrheit. »Ausbeuter« bin ich also keiner.
    Ich habe mit meinen Schriften »nicht der Sache der arbeitenden Massen gedient«? Eine große Frage. Ich konnte mit meinen Schriften nur dadurch der Sache der Arbeiter dienen, dass ich sie genau so schrieb, wie ich sie geschrieben habe. Ich hatte keine Wahl, da ich sonst die Literatur verraten und dadurch meine Leser getäuscht hätte. Die Sache der arbeitenden Massen besteht darin, ein Gesellschaftssystem zu schaffen, das ihnen die Mittel und den Zugang zur Literatur sichert; das ist die Aufgabe von Politikern, den Führern der

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