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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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getrost zur Hölle fahren; für diese hochsinnigen, in großen Dimensionen denkenden und urteilenden Diagnostiker bin ich ein Niemand. Eine echte Revolution wird es erst dann geben, wenn der Mensch verkündet, dass es auch um ihn geht, um ihn persönlich. Aber diesen Augenblick werde ich wohl kaum mehr erleben.
    Nachts lese ich Shakespeares Sonette. Wie viel mehr ist das doch als ein Weltkrieg! Und diese Sonette haben auch schon einige Weltkriege überstanden.
    Märzschnee. Ich bin seit fünf Jahren nicht mehr im Ausland gewesen. Seit fünf Jahren dieselben Menschen, dieselben Straßen, dasselbe Schicksal, dieselben Requisiten und Kulissen. Und vielleicht werden noch Jahre vergehen, bevor ich das Meer wiedersehe oder das, was von Paris oder Florenz übrig geblieben ist. Und vielleicht werde ich das alles gar nicht mehr wiedersehen: Dieses Schicksal, diese wenigen Straßen, diese Umgebung werden mich hier gefangen halten und irgendeine Macht, eine Bombe, ein Feind oder eine Krankheit mich unter die Erde bringen. Und derweil vergeht die Jugend, vergehen die sogenannten »besten Jahre«. Seit fünf Jahren eine gelegentliche Reise nach Sopron oder Eger, das ist alles. Und gelegentlich ein Buch aus der Schweiz oder aus Stockholm. Die Welt bleibt draußen, und die Jugend vergeht. Und nie wird mir das jemand zurückgeben können.
    Das höchste Gut des menschlichen Lebens ist die Unabhängigkeit. Aber verleihen Macht und Vermögen Unabhängigkeit? Sie tun es nicht.
    Es gibt nur eine Unabhängigkeit: die Unabhängigkeit der Wunschlosigkeit und der Armut. Und beide sind nur gemeinsam etwas wert. Eine Armut, die noch Wünsche kennt, ist die Hölle auf Erden.
    Giraudoux’ Sodome et Gomorrhe . Eine grandiose Willkür: Er kümmert sich auf der Bühne weder um Raum noch um Zeit, hier existiert nur die Sprache. Aber was für eine Sprache! Sie hat Flügel, sie überfliegt jede Gefahr und jeden Abgrund!
    Und er hat letztlich auch recht. Der Mensch ist wirklich ein hoffnungsloser Fall, er hat es verdient, dass Gott Schwefel und Verderbnis über Sodom und Gomorrha schickt. Der Mensch ist hoffnungslos, aber Gottes Verantwortung ist auch nicht gering: Er hat den Menschen so erschaffen.
    Eingesperrt in einem Land, das heute noch unversehrt ist, einem Haus, das heute noch unversehrt ist, einer Wohnung, die heute noch steht und mir gehört, einem Keller, der heute noch intakt ist und in dem ich mich vor den Bomben verkriechen kann: Dafür, dass es so ist, müsste ich dem Himmel auf Knien danken. Und ich danke auch aus voller Kehle: Es ist großartig und wunderbar, dass es so ist.
    Nur spüre ich, dass ich das Ganze nicht mehr lange aushalte. Dieses Eingesperrtsein, diese Hoffnungslosigkeit, die wimmernde und winselnde Niedertracht der Menschen um mich herum – es fällt mir mit jedem Monat schwerer, es zu ertragen. Eine Möglichkeit zu reisen besteht nicht mehr. Die Möglichkeit zu sterben besteht hingegen sehr wohl. Die gepackte gelbe Ledertasche für den Luftschutzkeller steht Tag und Nacht neben meinem Bett, darin eine Garnitur Unterwäsche, meine Manuskripte. Vielleicht kann man mit diesem Gepäck auch reisen – reisen, weiter als mit der Eisenbahn.
    Was von Jókais Werk hat die Zeit überdauert? Nichts; nur das Ganze.
    Vor einigen Jahren erschien ein utopischer Kriegs- und Schauerroman mit dem Titel Prag ist nicht mehr .
    Ich muss jetzt, da es Tag für Tag Luftangriffe von ungeheurer Gewalt auf Berlin gibt, an diesen Buchtitel denken. In der Wirklichkeit geschieht alles diametral anders, als wir es uns vorstellen. Die Wirklichkeit sieht so aus, dass in Prag bisher kein einziges Fenster zu Bruch gegangen ist, Berlin hingegen nicht mehr existiert.
    Je älter ich werde, umso tiefer, leidenschaftlicher, inniger interessiert mich die Literatur; und umso weniger interessiert mich das literarische Leben.
    Ich spüre, dass mich etwas wiegt. Gottes Hand? … Wie auch immer, manchmal ist mir schwindelig.
    Ein alberner französischer Vorkriegsfilm in einem Budapester Kino; der Held ist ein Diplomat, er setzt sich auf einmal in seinen riesigen Wagen, fährt eilig durch die Straßen von Paris, trifft gerade noch rechtzeitig am Bahnhof ein, um einen Schlafwagen in dem aus prächtigen Pullmanwagen bestehenden Zug »Paris–Genève« zu besteigen …
    Ich sehe die Bilder, und mich überkommt ein tiefer Schmerz, eine Verzweiflung, wie wenn man vom Tod eines geliebten Menschen erfährt. Was ist aus alledem geworden? Aus diesem Europa mit seinen

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