Tagebücher 01 - Literat und Europäer
gehen sie mich an? Nichts.
Der Tag wird kommen – der heutige Tag! –, an dem der Mensch wirklich und endgültig, mit seinem ganzen Wesen und Schicksal erfährt, dass er nur zu Gott und zu seiner eigenen Seele einen Bezug hat. Und er wird fortan geduldig leben, das grausame und hektische Missverständnis eines Lebens unter Menschen ruhig über sich ergehen lassen und auf den Tod warten.
Die Liebe … Ich denke an diese Anfälle und Krisen wie an längst vergessene exotische Länder zurück, die ich einst bereist habe.
Und was lag all diesen Krisen zugrunde? Wilder Egoismus. Und die Frage des Geldes. Niemals etwas anderes.
Er wartet auf den Tod … aber mit welch tiefem Vertrauen er auf ihn wartet! Er drängt ihn nicht, geht ihm aber auch nicht mehr aus dem Weg. Er lebt, so gut es geht, schweigt, wenn er unter Menschen ist, sieht den Untergang von Städten, Ländern und Gesellschaften, schweigt und wartet. Der Tod ist ein großes Gutes. Aber auch ein großer Kraftakt, eine Prüfung, auf die wir uns ein Leben lang vorbereiten. Man muss getreu leben, aber auch getreu sterben … treu jenem inneren Gesetz, das der Sinn unseres Lebens ist.
Wäre nur den Kindern ein leichteres Los beschieden. Diese Verantwortung ist furchtbar.
Vor einigen Monaten, als es in Ungarn noch den Anschein eines literarischen Lebens gab, schrieb man in Literaturzeitschriften fortwährend, ich sei kein Schriftsteller mehr, nur eine Art Journalist mit gelegentlichen Ausflügen in die Belletristik. Damals hatten sie nicht recht. Heute hätten sie recht, wenn ich ihnen die Gelegenheit böte, mich zu rezensieren: Ich bin in der Tat kein Schriftsteller mehr. Ich will es auch nicht sein.
In Budapest. Ständiger Luftalarm. Um neun Uhr früh in einem Felsenbunker im Burgberg während des Alarms. Am Bunkereingang Menschen im grellen Junilicht, bleich und verkatert, als kämen sie von einer Zecherei.
Ein funkelnder, strahlender, vollendeter Junimorgen. Kastanien wie toll gewordene Weihnachtsbäume, über und über mit Laub und Kerzen bedeckt. Es ist schon ein wildes Fest. Ich lese Goethes Campagne in Frankreich . Er bleibt 1793 – dreiundvierzigjährig – nahe Verdun vor einem Fischweiher stehen und bestaunt begeistert, wie die schuppigen Körper der Fische rötliches Licht abstrahlen, wenn Sonnenlicht auf sie fällt. Zu dieser Zeit beschäftigt er sich bereits mit der Farbenlehre . Am folgenden Tag erzählt er dem Herzog von Reuß von den Fischen und den roten Schuppen, und während die Heere der Verbündeten die Mauern Verduns mit Brandbomben versengen, gehen Goethe und der Herzog inmitten von Gewehrkugeln der Burgverteidiger spazieren und diskutieren über die Möglichkeiten der Farbenlehre.
So muss man leben, nur so.
Und mit Mitgefühl muss man leben. Ohne Sentimentalität, aber mit Mitgefühl, mit Erbarmen. Achtgeben, wann das Rettungsboot voll ist, und dann gnadenlos jeden zurückweisen, der auf das Boot zuschwimmt, weil er die voll besetzte Barke zum Kentern bringen könnte.
Voll Mitgefühl leben, aber objektiv. Wie ein Pfleger oder ein Arzt während einer großen Epidemie. Es steht nicht in unserer Macht, die Epidemie aufzuhalten, aber wir können von Bett zu Bett gehen, ein Glas Wasser, eine Spritze, ein linderndes Medikament, ein gutes Wort geben. Von früh bis spät, von spät bis früh. Das kann man tun, auch in Zeiten der Epidemie.
Beim Lesen unerbittlich sein. Lass dich nicht durch das Thema oder irgendeinen Trick des Autors bestechen. Lass dir solche Bestechungsversuche auch von den Größten nicht gefallen. Stets unerbittlich das Ganze im Auge haben, den Ton des Autors, seine Darstellungsweise, den Gegenstand und die Eigenheiten des Werkes; lass dich nicht langweilen oder durch Kunstfertigkeit blenden. Lies das Wesentliche heraus, das, was sowohl für das Werk als auch für seinen Schöpfer charakteristisch ist; denn der Charakter verleiht dem Werk seine Haltung.
Zwei Tage auf dem Lande. Alles steht in voller Blüte. Diese stille Fülle, diese über dem menschlichen Elend erblühende triumphale, gleichgültige, souveräne Junifülle tut weh. In der Luft irgendein süßer, gesegneter Duft.
Rom ist gefallen .
Während des französischen Feldzugs interessiert sich Goethe vornehmlich für die Möglichkeiten körperlicher Bequemlichkeit. Er hat früh gelernt, was wir irgendwann alle lernen müssen, dass sich ständige Lebensgefahr fast leichter ertragen lässt als permanente Unbequemlichkeit.
Warum ich nicht schreibe? Aber wie
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