Tagebücher 01 - Literat und Europäer
bitterer Gestank, der Geruch brennenden Öls. Budapest in dieser Stunde ist wie ein großer Körper nach einer heftigen Liebesumarmung: zwischen Tod und Befriedigung.
Du guter Tod, nimm mich in die Arme, wiege mich in den Schlaf.
Der eine sagt: Ich muss es überleben, das Ganze ist doch zu beschämend, um daran zugrunde zu gehen. Der andere sagt: Ich muss es überleben, ich will wissen, wie es ausgeht. Der Dritte sagt: Ich muss es überleben, weil mir noch viel zu tun bleibt, und so weiter. Keiner von ihnen sagt die Wahrheit: Dass es manchmal fast genauso gut ist zu leben, wie tot und ahnungslos zu sein.
Von diesem Krieg, der grauenvoller ist, als sich irgendjemand ihn je hätte vorstellen können, kann schließlich jeder mehr ertragen, als er sich je hätte vorstellen können.
Wir haben das Leben als Ganzes aus dem Blick verloren. Stattdessen haben wir etwas bekommen, was fast genauso ganz ist: die halben Stunden.
Die echten Schreckensgerüchte werden jetzt nicht mehr in Cafés ausgebrütet, sondern in den offiziellen Blättern mitgeteilt.
Nachts lese ich den fertigen ersten und den begonnenen zweiten Band der Beleidigten .
Ich habe das Manuskript seit einem Jahr nicht mehr angesehen. Jetzt ist mir klar, dass es unproportioniert ist; und ich sehe seine wirklichen Proportionen deutlicher vor mir. Auch mit dem Manuskript ist in der Zwischenzeit etwas passiert, nicht nur mit der Welt, nicht nur mit mir; sein Schicksal hat sich erfüllt. Es ist mir nicht möglich, mich von ihm zu trennen. Ich muss Die Schwester und Die Beleidigten beenden. Bomben, Deportationen, das alles ist keine Ausrede; ich darf nicht nur die Menschen, ich darf auch mein Werk nicht im Stich lassen.
Ich muss all meine verbleibende Kraft der Vollendung der Beleidigten widmen. Sonst war alles nutzlos und umsonst, meine Arbeit wie mein Leben.
Ja, das Leben ahmt die Kunst nach . Mit einem visionären, treffenden Wort aus dem Sagenkreis kann ein Schriftsteller die Wirklichkeit um Jahrtausende vorwegnehmen.
Die »Kondensstreifen« etwa, die die amerikanischen Flugzeugstaffeln bei ihrem Angriff auf Budapest an den sommerlichen Himmel über meinem Kopf zeichnen: die Straße der Heere .
Eine Dame sucht mich auf und teilt mir mit, dass ich schon am nächsten Tag in Kairo sein könne – mit einem Flugzeug des Roten Kreuzes und der heimlichen Hilfe der Gestapo –, wenn ich sechshunderttausend Pengő bezahle oder jemanden finde, der eine Million Pengő bezahlt und mich als Fahrgast zu sich ins Flugzeug setzt.
Ich bedanke mich für das Angebot und lehne ab. Habe weder sechshunderttausend Pengő noch einen Mäzen, der für einen solchen Zweck eine Million opfern würde. Aber das ist nicht das größte Hindernis, ein solcher Mäzen ließe sich vielleicht noch auftreiben. Irgendein reicher Aristokrat oder großzügiger Jude könnte solch astronomische Summen wohl beschaffen. Es geht um etwas anderes: Ich will von hier nicht weggehen. Ich glaube nicht, dass ich mich irre: Ich weiß genau, was kommen wird. Man muss es ertragen. Ich muss mein Buch beenden und dann leben oder sterben, wie es das Schicksal will.
Man kann daran sterben; das ist eine Lösung. Aber man kann es auch ertragen; und auch das ist eine Lösung.
Der Gärtner ernährt sieben Kinder von diesem Stück Land, das nicht einmal ihm gehört; er bewirtschaftet und bebaut es nur, weil es sich so ergeben hat; die männlichen Familienmitglieder haben nur ein Paar Schuhe; ist der Sohn bei der Levente-Übung , gehen die anderen barfuß. Der Gärtner beschäftigt sich also nur mit den wesentlichen Dingen. Eines der sieben Kinder ist ein Enkelkind; es stammt aus einer wilden Ehe, die älteste Tochter, eine Straßenbahnschaffnerin, hat es eines Tages mitgebracht. Es hat seinen Platz neben den anderen sechs, niemand spricht darüber. (Wie Montaigne, der gesagt hat: »Ich hatte drei Kinder oder vier …«) Der Gärtner weiß genau, wie wichtig es auch inmitten eines Weltkriegs ist, ob es regnet, ob die Kirschen wurmig sind, weiß, was schon Goethe wusste: dass es für einen Menschen eine bedeutungsvollere Aufgabe ist, sieben Kinder satt zu machen als einen Staat zu regieren.
Frances Thaïs . Ich lese es wieder nach zwanzig Jahren zum zweiten Mal. Heiter, sprühend, vollendet. Der tiefste Sinn des Lebens war eben doch die Leidenschaft.
Und da es auf die Frage, ob es sich »gelohnt« hat, ohnehin keine Antwort gibt, ist es menschlicher und aufrichtiger, sie gar nicht erst zu stellen.
Die
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