Tagebücher 01 - Literat und Europäer
soll ich denn schreiben? Was denken sich die Verrückten, die hinterhältigen Ankläger, die jetzt die politische Blutanklage der »geistigen Sabotage« gegen die Schriftsteller erheben? Ich bin nicht ich, wenn ich schreibe: Das, was ich schreibe, erschafft mich, nicht umgekehrt. Ein Schriftsteller ist nicht jemand, der in einem Zimmer Platz nimmt und aus freien Stücken zum Schriftsteller wird; ein Schriftsteller ist nur eine Nervenfaser in einem geistigen Organismus, und wenn der Organismus als Ganzes gelähmt ist, wenn die Nervenfaser durch den geistigen Organismus als Ganzes nicht mit ausreichend Blut versorgt wird, hört sie auf zu funktionieren.
Gedichte, schon wieder Gedichte. Sie summen mir im Ohr, suchen mich heim. Jemand schickt mir eine Botschaft von sehr weit her. Mit zitternder Hand, tränennassen Augen notiere ich, was er gesandt hat. Das ist das ganze Gedicht.
In Budapest. Jedes Läuten hat eine Bedeutung; und ich öffne die Tür nur noch, wenn ich ein verabredetes Läuten höre. Den Telefonhörer hebe ich nur ab, wenn es nach einem bestimmten Signal läutet. So leben wir.
Wer diese Zeit nicht mit uns durchlebt hat, wer nicht unter uns war, als das alles begann, sich zuspitzte, sein wahres Wesen offenbarte, wer nicht weiß, was es heißt, beim Läuten aufzuschrecken und dabei schon lange nicht mehr um das eigene Leben besorgt zu sein; wer nicht weiß, was dazu gehört, beim Sirenengeheul, das einen Bombenangriff ankündigt, gleichgültig aufzublicken, da unsere Nerven diese Gefahr längst in einem Gemisch anderer, noch bittererer und gefährlicherer Gifte neutralisiert haben; wer nicht wenigstens einem Kind geholfen, einem armseligen Obdachlosen Unterkunft gewährt hat, wer nicht weiß, was es heißt, mit der morgendlichen Post eine Postkarte zu bekommen, die an irgendeinem Bahnhof von jemandem aus einem Viehwaggon geworfen wurde, der mit achtzig anderen dem Tod entgegenfährt; wer das nicht mit uns durchlebt hat, diese drei Monate, diese fünf Jahre, diese zehn Jahre, der stelle sich niemals als Richter vor uns. Richten darf hier nur einer, der unter uns gelebt hat.
Ich habe in diesen Monaten zwei Arten von Menschen kennengelernt: den, der sein Bedauern ausdrückt und nichts tut. Und den, der kein Wort sagt, aber hilft.
Marlowe , The Jew of Malta . Er war ein Zeitgenosse Shakespeares, und es ist gut möglich, dass er dem Kaufmann von Venedig den Dramenstoff lieh.
Wie lebt der Jude in der Phantasie eines englischen Schriftstellers des sechzehnten Jahrhunderts? Eine spannende Lektüre in diesen Tagen. Marlowes Jude scheint direkt den Spalten des Stürmer entsprungen zu sein: habgierig, unersättlich, blutrünstig, arglistig, wortbrüchig, feige und rührselig. Dieser Jude von Malta ist eine Art Jud Süß – dem Stück wäre Erfolg beschieden, wenn es heute aufgeführt würde. Was ist dieses ewige Missverständnis? Und welche Schuld trägt die Literatur daran? So wie die unvergänglichen Gestalten des Marionettentheaters – der Kasper, János Vitéz und der Tod – oder der Komödie, der Commedia dell’Arte – die Schwiegermutter, der Geizige, der gehörnte Gatte, der Esel, der einfältige Diener –, so lebte der Jude in der Requisitenkammer der Literatur. Eine unvergängliche Gestalt mit Schläfenlocken, Blutdurst, Wucher, falschem Eid in der Kaftantasche und Christen schmähendem Fluch auf den Lippen. Wenn ein Schriftsteller in Bedrängnis geriet, zog er zu allen Zeiten diesen Stoff und diese Gestalt aus der Schublade wie etwa die Schwiegermutter oder den Geizigen.
Der Blick der Menschen in den Straßen von Budapest: Ja, lebt der denn noch? Und warum, mit welchem Recht? … Ihre Seh-, Gehör- und Geruchsorgane arbeiten auf Hochtouren. Ihr Gehör ist geschärft, ihr Blick der eines Spürhunds. Genauso stellt der Jagdhund das Wild, wittert er die Beute.
Den Roman beenden. Es gibt keinen Ausweg.
X . ist nach Polen deportiert worden . Der Bezirksverwalter, den ich brieflich bat, den sechsundsiebzigjährigen Mann nicht wegzubringen, sondern im Getto zu lassen, schlug mir die Bitte in wenigen Zeilen ab. Er könne nichts tun, schrieb er. Aber warum kündigt er nicht, wenn er nichts tun kann?
In jedem Viehwaggon fahren achtzig Personen, mit zwei Eimern Wasser. Die Sterbensrate während der Fahrt liegt bei fast zwanzig Personen. Ein Waggon war sechs Tage lang von Nagyvárad bis Kaschau unterwegs. In den für vierzig Personen beziehungsweise sechs Pferde konzipierten Waggons können achtzig
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