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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Personen weder liegen noch sitzen.
    Die Angelsachsen haben mit der Invasion Frankreichs begonnen.
    Ich habe zwei Gedichte geschrieben: »Widmung« und in einer ersten Fassung die These von »Rosen, Sommer, Leidenschaft«.
    Kosztolányi war ein großer, sehr großer Schriftsteller: heiter, empfindsam, klug, geistvoll, weise, traurig, boshaft. Jede seiner Zeilen ist edel, reich, seltsam pulsierend.
    Aber es gibt bei ihm, in seinem Leben wie in seiner Literatur, auch noch einen Mehrwert; und es genügt nicht, ein großer Schriftsteller zu sein, damit ein Werk einen solchen Mehrwert ergibt. Ich denke an den Mehrwert eines Werkes wie das Buch Jona . Das ist bereits Gnade.
    In der Stadt L . Der jüdische Arzt A . wurde ins Arbeitslager, sein fünfjähriges Kind mit den Gettobewohnern im Waggon nach Polen gebracht; seine Praxis blieb, wo sie war. A . war mein Schulkamerad gewesen. Er hatte seine Praxis modern eingerichtet, mit Röntgenapparat, Elektrokardiograf. Lauter Raritäten auf dem Land. Um die Praxis, den Röntgenapparat, die Ausstattung stritten sich zwei Leute: der örtliche Amtsarzt und ein Internist. Die Räuber konnten sich nicht einigen. Der Streit artete in eine ritterliche Angelegenheit, ein Duell aus.
    Denn wir sind ein ritterliches, herrschaftliches Volk, bitte ergebenst.
    Die Gestapo hat vierzehn »Großjuden« , unter ihnen die Familienangehörigen des berühmten milliardenschweren Fabrikanten, gegen ein märchenhaftes Lösegeld in die Schweiz ausreisen lassen. Es wird berichtet, dass sie auch schon angekommen sind.
    Diese steinreichen jüdischen Millionäre haben bei uns alles vom Leben bekommen, was ein Mensch nur bekommen kann. Während der Fluchtverhandlungen kam keinem von ihnen der Gedanke, um das Leben von fünfhundert armen, elenden jüdischen Kindern zu bitten, wenn sich denn so etwas überhaupt mit Geld regeln lässt. Und wie ich die Deutschen kenne, hätten sie dem um das Leben der fünfhundert Kinder bittenden Großjuden als Zugabe vielleicht auch das Leben der flüchtenden Familienangehörigen der reichen Familie geschenkt. Aber auf den Gedanken verfielen sie gar nicht.
    Am Vormittag beobachte ich die Bewohner eines Ameisenhaufens bei der Arbeit. Es entsteht nicht nur eine, es entstehen gleich vier solche Awaren- oder Gepidenburgen, eine Art West-Wall der Insekten. Ihre Arbeit ist erschreckend zweckmäßig. Manche Ameisen tragen schwere, reiskorngroße Steinbröckchen, das Zweifache, Dreifache ihres Körpergewichts, aus der Tiefe bis zum Rand des Trichters herauf. Andere schleppen tote Fliegen, Insekten in die Tiefe, in die Kühlhäuser hinunter. Am Mittag zerwühlt, zerscharrt ein verspielter junger Hund einen der Ameisenhaufen. Bis zum Abend zeichnen sich bereits die Umrisse des neuen Baus ab.
    Gefahrenbewusstsein ist bei ihnen nicht erkennbar. Ich zertrete mit einem unbedachten Schritt ihre mehrwöchige Arbeit. Dennoch bauen sie weiter; und wie ich von Maeterlinck und anderen weiß, brauchen sie auch Euphorie, Betäubung, um existieren zu können; sie nehmen eine Art Blattlaus gefangen, melken sie und betäuben sich lustvoll an ihrem Sekret.
    Monsun. Am frühen Morgen liegen drei tote Spatzen auf dem Gartenweg.
    In Budapest. Luftalarm, Luftangriffe in der Nacht und am Tag. Nach dem Angriff am Vormittag steigen drei dichte, schwarze Rauchsäulen hinter dem Gellértberg hoch. Dieser säuerlich riechende schwarze Nebel verdunkelt die Sonne. Ich sehe so etwas zum ersten Mal. Man hat eine der Ölraffinerien getroffen.
    Im Luftschutzkeller sitzt Gräfin U . auf einem Schemel, in larvenhafter Schönheit, mit glänzenden Augen. Begrüßungen, Gesellschaftsklatsch. Wir unterhalten uns über gemeinsame Bekannte, Menschen, die in alle Winde zerstreut wurden. Das alles geschieht – im schwülen, feuchten Dämmerlicht des öffentlichen Luftschutzkellers unter Kranken, Säuglinge wiegenden Müttern, finster dreinblickenden Menschen, inmitten dumpfer Bombenexplosionen und wegen Stromunterbrechung erlöschender Glühbirnen – in einem gesellschaftlichen Ton wie im Keller der Conciergerie .
    Ich habe nichts mehr übrig für »mutige« Menschen, bin ihnen gegenüber misstrauisch. In der Not sind alle mutig, auch die Feiglinge, wenn der Augenblick gekommen ist. Ich liebe die zähen Menschen, die das, was sie sich vorgenommen haben, schließlich auch schaffen; und dabei vielleicht gar nicht so mutig sind.
    Ein Luftangriff am Vormittag. Er endet beim mittäglichen Glockengeläut. Schirokko. In der Luft ein

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