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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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einem Paneuropa träumende Briand bei den Präsidentschaftswahlen unterlag. Es war sehr heiß. In der kurzen Pause, während die Stimmen Briands und des Bossuet lesenden bärtigen Doumergue ausgezählt wurden, schlenderten einige Senatoren, den Orden der Ehrenlegion im Knopfloch ihres Gehrocks, zu einem nahe gelegenen Bordell, um eine kleine Siesta zu halten.
    Der Rasen in Versailles. Der lanzenförmige Zaun mit seinen vergoldeten Spitzen. Die gestutzten Alleen, in denen all die Ludwige beim Schäferspiel ein ganzes Christenreich verspielten. Spaziergänge im herbstlichen Versailles, unter den sich weiß wiegenden Marmornymphen im gelben Laub. Und noch einmal die Jugend.
    Am Vormittag Bombenangriff. Während des Luftalarms lese ich Babits’ letzte Gedichte, »Mahnung zur Buße«, »Blasiussegen« und die Schlusszeilen vom Buch Jona : » mal mit der rechten Hand , mal mit der linken – wem soll die Unterscheidung da gelingen?« Wer vermag schon zu sagen, wer in diesem Augenblick in der bombardierten Stadt, die die Strafe Gottes gerade ereilt, schuldig ist und wer nicht?
    Babits war ein großer Dichter, der größte unter den Zeitgenossen; aber vielleicht war seine Seele noch größer als seine Dichtung. Sein Stil ist manchmal ermüdend, seine Seele stets erquickend und kraftspendend.
    Die Frau des Gärtners schlendert mit ihren vier Sprösslingen – darunter ein Enkelkind, ein uneheliches Kind – ziellos im Garten umher wie eine Glucke mit ihren Küken; sie picken, hier eine Birne, dort eine unreife Tomate; sie sind gleichgültig und selbstsicher. Sie haben ihren Platz in der Welt, die Glucke und ihre Küken, sie plappern, trippeln, leben vor sich hin. Sind sie die »Zukunft«, die »ungarische Zukunft?« … Nein, sie sind die Gegenwart, die einzige Wirklichkeit.
    Falstaff , auf Französisch.
    Ist Falstaff »unmoralisch«? Nein, er hat nur keine Moral; das ist nicht dasselbe.
    Die meisten stellen sich die »Wende« so vor, dass eines Abends um zwanzig vor acht das Radio ertönt und verkündet … Was eigentlich? Das Ende des Krieges? Den ewigen Frieden? Wohl kaum. Die Wende ist vermutlich längst da, vollzieht sich schon beharrlich und unbemerkt, Tag für Tag, während wir glauben, dass das Rad der Welt stillsteht und nichts geschieht.
    Der alte Feigenbaum im Garten ist riesig, aber trotz der Kraftanstrengung eines langen Lebens und eines ganzen Sommers hat er nur eine einzige verdorrte Feige hervorgebracht; man sieht ihm an, dass er es sich zweimal überlegt, bevor er etwas sagt.
    Seit fünf Tagen schwankt das Thermometer zwischen dreißig und vierzig Grad; ich bin nur noch in Badehose, so tippe ich auch diese Zeilen; und in der tropischen Hölle dieses Wetters werden in der Normandie , in Südfrankreich und im Osten die größten Schlachten der Weltgeschichte ausgetragen. Was mag ein Engländer oder ein Kanadier in diesen Mittagsstunden empfinden, eingeschlossen in einen Panzer, diesen erhitzten Eisenkessel, der über irgendeine normannische Landstraße kriecht und in flammenden Feldern den Tod auf flüchtende Deutsche spuckt? … Er flucht vermutlich, weil ihm heiß ist, weil er kämpfen muss; er flucht und kämpft. Denk an sie, wenn du das Gefühl hast, dass du es nicht mehr aushältst – was, die Hitze? Nein, die Schande! Fluche, aber kämpfe, ertrage alles und arbeite.
    Am Morgen zwischen zwei Luftalarmen strahlt das Radio Tod und Verklärung von Richard Strauss aus. Die Musik berührt mich tief, wiegt mich in eine Stimmung von Trauer und Erhabenheit. Die Verklärung gibt es nicht, den Tod gibt es; aber zwischen beiden gibt es den Menschen, der den monotonen Ablauf des Daseins in wunderbares Pathos kleiden kann.
    Falstaff erwähnt mit liebenswerter Ungezwungenheit, dass Ungepflegtheit und Gestank schon zu Shakespeares Zeiten mit am meisten dazu beitrugen, die Menschen unerträglich zu machen.
    Die Schwester steht jetzt am Scheideweg: Ich muss mich entscheiden, ob daraus ein Roman oder ein Memoirenband werden soll. Das ist der größte Kraftakt bei einem schriftstellerischen Unterfangen. Und ich spüre, dass ich müde bin.
    Als wäre am neunzehnten März etwas in mir zerbrochen. Ich kann meine eigene Stimme nicht mehr hören; wie wenn ein Instrument taub wird; bei Holzinstrumenten soll das gelegentlich vorkommen.
    Das, was passiert ist, kann man nicht rechtfertigen und nicht erklären; man kann es nur eingestehen und berichten. Und das wird die Aufgabe der kommenden Generation sein. » Wer den Ton angeben

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