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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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will , muss erst durch die Hölle gehen.« Wir sind durch die Hölle gegangen. Mögen sie nun den Ton angeben.
    Was können sie noch berichten? Dass wir so waren und so sind; und aus dem und jenem Grund so sind. Dass wir einst auch anders waren, und sollten wir noch einmal aus der Hölle ans Tageslicht gelangen, vielleicht wieder anders sein werden. Was ging hier fünfundzwanzig Jahre lang vor sich? Ein Interessenverband hat zum Schutze des feudalen Großgrundbesitzes unter dem Vorwand von Trianon fünfundzwanzig Jahre lang ein System aufrechterhalten, das mit sanftem und weniger sanftem Terror jedes Streben nach Qualität unterdrückt und unterschlagen hat. Wer nur verdächtigt werden konnte, nach Qualität zu streben, war entweder jüdisch oder judenverdächtig oder jüdisch versippt, ein dekadenter Engländer- oder Franzosenfreund, ein Freimaurer und Kommunist. Der Interessenverband wollte keine Qualität; sie riefen uns aus Kolozsvár und Kaschau zu, es möge sich bei uns nichts ändern, und niemand bekam die Gelegenheit zu erwidern, dass Kolozsvár und Kaschau nur dadurch zurückzugewinnen waren, dass wir hier zu Hause ein qualitätvolles Ungarn schufen, das auch auf die Völker der Nachbarstaaten und das vom Mutterland abgetrennte Ungarntum anziehend wirkte. Die Tschechen, Serben, Rumänen präsentierten sich mit ihren Schriftstellern, Malern, Bildhauern stolz der Welt, führten begeistert ihre Talente vor. Unsere Auslandsvertretungen empfingen den ungarischen Schriftsteller, Künstler, Intellektuellen, der dort anklopfte, wie ein Stuhlrichter den zum Rapport bestellten Leibeigenen empfängt.
    All das muss berichtet werden; hier zu Hause und draußen in der Welt. Und deshalb muss man jenen anderen gelben Fleck tragen, den fortan Generationen von Ungarn vor der Welt tragen werden; muss man einen Klassenraum suchen, eine Art Grundschule eröffnen, in der Menschen von Geist zukünftigen Generationen von Ungarn die Grundbegriffe erläutern; die Grundbegriffe von Heimat, Nation, Staat und Gesellschaft sowie die Grundregeln im Verhältnis von Mensch und Nation zur Welt; muss man den Herrschaften von der Turul-Kameradschaft berichten, was Théophile Gautier über Baudelaire gesagt hat, der vielleicht ein ganz anderer war als der, für den ihn diese Turul-Leute fünfundzwanzig Jahre lang hielten …; muss man alles von Neuem beginnen.
    Ich werde nicht nach Schweden gehen. (Ich werde zwar auch nicht vehement dorthin gerufen, aber wenn ich wirklich wollte, könnte ich gehen.)
    Warum ich nicht nach Schweden gehe? Weil ich dort nichts verloren habe; und mein Leben zu retten, nur so pour mon plaisir , dazu habe ich keine Lust mehr. Ich möchte noch zwei Romane schreiben ( Die Beleidigten beenden) und einige Dramen. Und Gedichte. Und dieses Tagebuch. Und dabei sterben, herzlich gern, jederzeit, wenn es die Menschen oder Götter befehlen.
    Hitler ist gescheitert, weil … Aber Stalingrad und alle anderen Stationen dieses Krieges waren nur noch Folgeerscheinungen.
    Hitler ist gescheitert, weil er gelogen hat. Ihm fehlte die Größe; er war ein verlogener Mensch. Der Führer eines großen Volkes kann seinem Volk alles gewaltsam verschaffen, wozu es die Kraft und das Recht hat; so ist die Welt beschaffen. Aber der Führer eines großen Volkes darf nicht im September 1938 im Berliner Sportpalast erklären, er könne nicht schlafen, solange drei Millionen Sudetendeutsche unter tschechischem Joch »litten«, er darf nicht versprechen, er würde die Welt in Ruhe lassen, wenn man ihm nur noch diese drei Millionen Deutsche gäbe. Und er darf nicht brüllend geloben: »… und dann will ich keinen Tschechen mehr sehen « – und kurz darauf in Prag einmarschieren . Ein großes Volk kann ein kleines Volk vernichten, das liegt in der Natur der großen Völker; aber der Führer einer großen Nation darf nicht bewusst und öffentlich lügen, weil die Welt so etwas nicht duldet. Pacta sunt servanda .
    Mittags erfahre ich, dass Paris gefallen ist . Im Kriegsbericht der Zeitung lese ich: La Roche-Guyon. – Das ist die Ortschaft, wo die Amerikaner jetzt die Seine überquert haben. Das ist die Ortschaft, in der ich in meiner Jugend ein paar Tage glücklich war. Die Seinelandschaft ist herrlich sanft hier; die Gärten sind voller Rosen und Bienen.
    Abends höre ich im Radio, dass de Gaulle in Paris einmarschiert ist und amerikanische Panzer am Boulevard Saint-Germain vorrücken. Ich kenne dort jeden Stein. Figon, der Gastwirt. Das Deux Magots ,

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