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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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mit Derain. Ich weiß nicht, was auf uns zukommt, aber dieser Tag hat doch etwas Beglückendes; vielleicht lohnt es sich doch zu leben.
    Jeder will sein Leben retten, jeder für sich. Weil er ein Mensch ist. Und das Land? Die Nation? Auch sie lebt, und die hoffnungslose Mehrheit kann nur im Rahmen dieser Nation leben und sterben, selbst wenn sie keinen Bezug zu ihr zu haben glaubt.
    Die Nation schwebt in tödlicher Gefahr. Ich glaube gar nicht mehr, dass sie in ihren vertrauten Lebensformen, ihrer historischen Gestalt noch gerettet werden kann. Ich rede nicht mehr von Städten und Territorien, sondern vom nackten Überleben dieser Nation. Davon, dass irgendetwas von Ungarn übrig bleibt, irgendein Keim, den fürsorgliche und hingebungsvolle Hände zu einem nationalen Organismus heranziehen können, der in der Welt wieder geachtet wird. Aber wo sind diese fürsorglichen Hände? Diese sauberen Hände? Wohin man sieht, nichts als Gier, Ehrgeiz oder Duckmäuserei.
    Benvenuto Cellinis Autobiografie – »von ihm selbst verfasst, in Florenz« – ist deshalb so elektrisierend und erschütternd, weil ihr Held und Autor mit der Feder genauso umgeht wie mit dem Meißel, mit dem er seine Meisterwerke formt, und mit dem Meißel genauso wie mit »dem kleinen Dolch«, den er stets in Reichweite hat, wenn es gilt, irgendein Geschäft gründlich zu erledigen. Leben, schaffen, morden, zarte Linien ins Silber ritzen oder einem Rivalen einen zarten Stich zwischen die Rippen versetzen, für ihn ist das ein und dasselbe; leben heißt handeln; dieser Florentiner lebt den Lebensrhythmus des sechzehnten Jahrhunderts sowohl in seinem Werk als auch in seinem Leben bis zur Neige.
    Vielleicht mochte ihn deshalb Goethe, der nur das mochte, worin er den Pulsschlag der Zeit spürte. »Dann nahm ich meinen kleinen Dolch, suchte Giuseppe auf und stieß ihm den Dolch zwischen die Rippen …«, sagt Cellini in einem Ton, als wenn wir ausrufen: »Dann griff ich zum Hörer und sagte dem miesen Kerl ordentlich meine Meinung.«
    Ich lese in Messiaens Notizen zu Falstaff , dass ein Paar Seidenstrümpfe – laut Stubbs – schon zu Shakespeares Zeiten zwanzig Schilling kostete; und der trockene spanische Wein schon damals mit Kalk versetzt wurde.
    Diese Randnotizen sind überaus nützlich; vielleicht machen sie den eigentlichen Wert von Messiaens Shakespeare-Übersetzungen aus. Ein Fluch von Falstaff (»Lieber will ich Strumpfmacher sein« usw.) ist auch eine Anspielung darauf, dass Strümpfe im sechzehnten Jahrhundert sehr teuer sind, Arbeiter hingegen schon damals schlecht bezahlt werden. Statt einen Leitartikel zu schreiben, bringt Shakespeare seine Meinung über die sozialen Zustände seiner Zeit auf diese Weise zum Ausdruck: in Form eines Fluches mit nationalökonomischem Hintergrund.
    Diese erbärmlichen Schreiberlinge, mit der Füllfeder Mordenden – es gab unter ihnen auch Talente, und deren Schuld ist noch größer und noch weniger verzeihlich als die der untalentierten Abenteurer! –, die sich nicht scheuten, über lebende oder tote Schriftsteller auf Ungarisch zu schreiben in einer Zeit, als hinter jedem geschriebenen und gesprochenen Wort Brachialgewalt stand, die jederzeit bereit war, über jene herzufallen, die von diesen feigen, niederträchtigen Söldlingen an den Pranger gestellt wurden: Sie werden sich den »Veränderungen« am allerschnellsten anpassen.
    Die Schriftsteller dagegen schwiegen. Sie lebten gefährlich und schwiegen. Sie waren keine »Helden«, nein; das Heldengebaren überließen sie den zwielichtigen Konjunkturrittern. Sie waren keine »Barden von Wales« ; sie schwiegen ohnmächtig. Und doch schwiegen sie, schwieg das ganze ungarische Geistesleben; und wie viel das bedeutete, wie sehr das in diesen Monaten eine Tat war, das weiß nur einer, der hier gelebt hat. Es ist einer der wenigen Hoffnungsschimmer; es kann die Düsternis zwar nicht zerstreuen, ein Strahl ist es dennoch.
    Nein, etwas ist zerbrochen. Ich arbeite, aber etwas ist nicht in Ordnung, mit mir, mit meiner Arbeit, zwischen uns, zwischen meiner Arbeit und mir. Ich habe den Glauben an meine Arbeit verloren. Ich arbeite, da ich sonst krepieren würde. Aber man muss an die Arbeit glauben, man muss an die Menschen glauben. Und das will mir nicht mehr gelingen. Deshalb ist das Ganze nicht viel wert; vermutlich gar nichts.
    Die Mittelklasse. Jetzt erwarten sie geknickt und beleidigt den »Genickschuss«. Ich weiß nicht, ob es den Genickschuss geben wird, ich weiß

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