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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Vitalität dieser Stadt. Ruhig, fast schon heiter und überlegen lebt sie im Rachen des Todes.
    Es gibt den Krieg, den Tod, die Schikanen der Behörden … aber es gibt auch etwas anderes. Es gibt gewiss auch die Liebe, die jenseits aller langweiligen, tragischen und kläglichen Missverständnisse infolge menschlicher Selbstsucht und Eitelkeit eine reine und unschuldige Macht in der Welt darstellt und über die Gefahrenzonen von Krieg und Tod hinaus wirkt, in alle Ewigkeit.
    Ungarn ist das Opfer falscher Autoritätsgläubigkeit. Man verehrte hier sämtliche künstliche Autoritäten und beargwöhnte alle, die einzuwenden wagten, dass es keine andere Autorität gäbe als die Autorität des Verstands, des Talents, der Qualität und der Großmut. Geldbriefträger trugen eine Hochmut zur Schau wie einst siegreiche Generäle, und hatte jemand die sechzig vollendet, forderte er schon einen Verdienstorden.
    Ein Kind mit gelbem Stern, dessen Eltern und Großeltern in Viehwaggons verschleppt wurden in die polnischen Deportationslager – das Kind entkam und lebt in einem Internat –, trägt bei einem Fest am Sonntag ein Gedicht vor. Es ist acht Jahre alt und hat das Gedicht selbst ausgesucht. Es rezitiert:
    Ungar bin ich, als Ungar geboren ,
    Ungarisch das Lied, das meine Amme gesungen,
    Ungarisch lehrte mich die Mutter beten
    Und dich, meine schöne Heimat, lieben,
    und die wenigen Menschen im Saal, die sein Schicksal kennen, sitzen da, bleich. Ein kalter Schauder hat die Zuhörer ergriffen.
    Julien Greens Tagebücher , 1928 – 1934. Diese Tagebücher sind ein ungewolltes Eingeständnis der eigenen Verantwortung für den Krieg. All diese französischen Schriftsteller – Gide, Roger Martin du Gard, Green, Malraux, Cocteau usw. – bekunden die Unvermeidlichkeit eines neuerlichen Krieges, als stünde der schon fest, als sagten sie nur, dass morgen Dienstag sei. Sie argumentieren nicht, loten nicht die Möglichkeiten aus, sie haben die Notwendigkeit des Krieges akzeptiert. Sie streiten nur noch über seinen Zeitpunkt und seine Ausmaße. Und das 1928, also zehn Jahre nach dem Waffenstillstand, vier Jahre vor Hitlers Machtergreifung und elf Jahre vor dem Ausbruch des neuen Krieges! Diese Schriftsteller, deren Kenntnisse in Politik und Diplomatie vielleicht nicht hervorragend, deren Kenntnisse der menschlichen und gesellschaftlichen Kräfte sowie derer Triebfedern jedoch gewiss tiefer, unmittelbarer und zuverlässiger als die eines Abteilungsleiters im Außenministerium waren, hatten sich schon zehn Jahre vor dem Ausbruch des neuen Krieges innerlich mit diesem Unglück abgefunden, es als unausweichliches Verhängnis akzeptiert – die Bankiers würden sagen: »eskomptiert«.
    Und wenn wir an diese Zeit zurückdenken: Chamberlain war eine große Gestalt! Man verspottete ihn als einen beflügelten Engel im Redingote, der im kriegslüsternen Europa umherfliegt und mit den Urkunden trügerischer Verträge wedelt, lächerlich und hilflos. In Wahrheit tat er alles, was in seiner Macht stand: Er wusste, dass sie unvorbereitet waren, auf Zeit spielen, abwarten mussten. Eine undankbare Rolle, aber im Nachhinein sehen wir: Er hatte recht, ihm blieb nichts anderes übrig.
    Drei Tage Hitzschlag. Nachts heftige Regenschauer mit Blitz und Donner, ein mehrstündiger Angriff aus der Luft. Als wolle Gott dem dilettierenden Menschen zeigen, dass auch Er einiges kann.
    Im Garten entdecke ich einen jungen Apfelbaum, der nur zwei rote Äpfel trägt. Das ist wie der erste Gedichtband. Ich begutachte ihn: Ein talentierter Baum, aus ihm wird noch etwas.
    Die Niedertracht eines Menschen manifestiert sich meist nicht im Hauptsatz, sondern im Nebensatz: im Nebensatz seiner Antworten auf die Fragen der Zeit.
    X ., der Dichter, wurde gebeten, eine Petition zu unterzeichnen, damit B ., sein einstiger Mäzen – der nun den gelben Stern und dessen Folgen zu tragen hat –, in seiner Wohnung bleiben darf. X . verweigert seine Unterschrift unter Hinweis auf die eigene vertrackte Lage; das ist immerhin ein Standpunkt. Doch dann fügt er hinzu: »Aber ich lade B . gern zum Mittagessen ein.«
    Mit anderen Worten, er möchte ihn vor der Hinrichtung, die er nicht zu verhindern bereit ist, mit echt ungarischer Herzlichkeit hinter herabgelassenen Jalousien zu einem feinen, kleinen Pörkölt willkommen heißen.
    Am Abend bei R .; er ist mit seiner Frau gerade aus dem Internierungslager zurückgekehrt, wo er die Hölle durchlebt hat, Bombenangriffen ohne

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