Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
Vom Netzwerk:
überhaupt nicht, was werden wird … Ich weiß nur, dass diese Mittelklasse nicht nur feige und neidisch, sondern auch unendlich faul ist. Deshalb ist ihr so bange vor der kommenden Zeit, wenn man wirklich wird arbeiten müssen; also nicht nur irgendeine Pseudoarbeit, etwa in einem bequemen Amt, sondern eine wirkliche, konkurrenzfähige Arbeit wird verrichten müssen, mit allen Konsequenzen. Bis vor Kurzem konnte sich diese Mittelklasse ihrer Stellung als privilegierter Erbe eines unsichtbaren Fideikommisses noch sicher sein. Nun ist sie herausgefallen aus diesem Fideikommiss, aus der müßigen, verantwortungslosen, vornehmtuerischen, faultierartigen Nichtstuerei, von jetzt an werden die gnädigen Herren wirklichen Handel treiben, verantwortlich arbeiten müssen; und davor ist ihnen bange. Dann schon lieber den Genickschuss, sagen sie mit verlogenem Märtyrerlächeln. Sie sind nicht nur feige und eitel, sondern auch faul.
    Pseudoarbeiten verschaffen einem keine Befriedigung. Die Erde beackern, ja. Einen Schuh herstellen, mit Geschick und handwerklichem Können, ja. Einen Kranken heilen, mit allem, was dazugehört, lege artis, ja. Ein Buch schreiben, unter Einsatz unserer ganzen Kraft und inneren Spannung, ja. Aber ein leitender Direktor, ein »vornehmer Staatsbeamter« sein, ein Leben lang mit gepflegten Fingernägeln Däumchen drehen und sich bei aller eitlen Arroganz, die solche Tätigkeiten in der Seele erzeugen, langweilen … das bereitet natürlich keine Befriedigung. Und jede Verantwortung scheuen. Denn das tun sie. Und deshalb wimmern sie jetzt, denn sie ahnen, dass ihnen nun, mag sich die Welt drehen, wie sie will, die grausame Prüfung der Verantwortung und der konkurrenzfähigen Arbeit bevorsteht.
    Diese Vormittagsstunden in Budapest, wenn die Sirenen ertönen. Endlich kehrt in den Straßen, in der ganzen Stadt Stille ein. Es rattern keine Fahrzeuge, die Straßen sind menschenleer, es droht kein Besuch, das Telefon kann nicht läuten. Endlich finde ich, wonach ich mich immer gesehnt habe – ein Leben in völliger, absoluter Verborgenheit und Ruhe. Nicht ganz so und nicht ganz dort, wie und wo ich es mir vorgestellt habe, aber ich habe es gefunden.
    Ich gehe nicht mehr in den Luftschutzkeller; bleibe in der leeren Wohnung und lese. Endlich kann ich einmal ungestört lesen.
    Heute – am ersten September – würde der Kleine fünf Jahre alt. Ich kann mich genau an den Tag seiner Geburt erinnern. Ich lauschte in meiner Budapester Wohnung Hitlers Ankündigung: » Von fünf Uhr Morgen ab an der polnischen Grenze wird geschossen …« Später fuhr ich ins Schwimmbad.
    Was gab es in diesen fünf Jahren? Es wurde unendlich viel gelogen, das war am anstrengendsten. Ekelerregende Dunstwolken der Lüge vernebelten das ganze Leben; eine Atmosphäre wie beim Schirokko; immer und in allem wurde gelogen. Auch meine Arbeit wurde zur Lüge, denn ich konnte die Sätze nur halb aussprechen. Dann begann das massenhafte Morden, nicht nur auf den Schlachtfeldern und in den bombardierten Städten; in den Internierungslagern in Auschwitz, bei Olmütz und Lublin begann das industrielle Morden, Massen von Menschen – Millionen und Abermillionen Juden, Polen, Russen, Belgier, Franzosen, Holländer – wurden in Viehwaggons in diese Industriegebiete des Todes transportiert und dort auf zeitgemäße Weise, mithilfe chemischer Mittel, umgebracht, in Krematorien hat man sich ihrer entledigt. Dann wurden die schönsten europäischen Städte zerstört; doch das nahmen wir gar nicht mehr zur Kenntnis.
    Und währenddessen permanentes Lügen, von früh bis spät; man nannte es jetzt Propaganda. Jubelnde Ausbrüche grenzenloser Dummheit und Habgier über die anfänglichen Erfolge. Viele Irrtümer, noch mehr Verirrungen. Und immerzu Feigheit und habgieriger Egoismus.
    Was gab es noch in diesen fünf Jahren? Eine große Liebe und eine große Krankheit; ein zweifelhaftes Etwas, das man Erfolg nennt; und den bleibenden, mit den Jahren immer stärker werdenden Schmerz über den Tod des kleinen Kindes.
    Das Erlebnis vieler Bücher. Uralte Bücher, die mir hin und wieder Trost spendeten. Viel Arbeit. Neid, Verleumdung und Hass, also alle natürlichen Begleiterscheinungen des Erfolgs. Immer größere Einsamkeit. Pflichten, die es zu erledigen galt; ansonsten Gleichgültigkeit. Ich bin vierundvierzig Jahre alt, möchte noch leben, die Wahrheit schreiben, aber anders, vollständig; als könnte der Weltenhauch meiner Seele noch einmal Flügel

Weitere Kostenlose Bücher