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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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lese ich die jüngsten Auslassungen von Dorfrichter Gábor Göre . Dieser Dorfschulze Gábor Göre ist ein mit der für den Ungarn so typischen Aufrichtigkeit gezeichnetes getreues Bild des gesunden Urteilsvermögens eines, ja vieler öffentlich Bediensteter auf dem ungarischen Dorf, vor allem im Hinblick darauf, wie man schmarotzen und durch Umgehung der Gesetze einen bescheidenen kleinen Extragewinn einstreichen kann. Ein würziges, erbauliches Buch. Es sollte später einmal im Schulunterricht verwendet werden.
    Von der Hügelkuppe hat man einen weiten Blick. Auf dem Fluss schwimmt ein hellgrün gestrichener Dampfer. Die Landschaft ist domestiziert, bewusst mild wie alles, was längere Zeit einen organischen Bezug zum Menschen hat.
    Die Welt ist wunderbar, die Natur reich und unendlich. Gott konnte seine Augen am siebten Tag zufrieden über dieses Wunder schweifen lassen, er befand zu Recht, dass es »gut war«.
    Aber zum Wunder der Natur gibt es noch eine Zugabe. Der Mensch hat der Natur noch etwas hinzugefügt; er, der Mensch, hat der Schöpfung die Krone aufgesetzt in Form von Schöpfungen, die man mit einem Sammelbegriff Kunst nennt. Das Meer, das Tal, der Wald, der Fluss, die Ebene, das alles ist absolut. Aber eine Fuge von Bach, ein Gedicht von Rilke, ein Bild von Cranach oder Goya, ein Bau von Palladio, ein Gedanke von Goethe, eine Plastik von Phidias oder Rodin sind Geschenke, die nur der Mensch, und er allein von allen Lebewesen, aus freiem Willen dem Wunderwerk der Welt hinzugefügt hat. Und das ist auch das Einzige, was für den Menschen zählt: die Kunst. Der Rest ist nur Dasein, die rhythmische Verbindung aus der Wechselwirkung von Kraft und Materie.
    Tennyson , Enoch Arden . Ein schönes Versmärchen über gute Menschen, die allen Schicksalsschlägen zum Trotz gut bleiben. Das Raunen des Meeres ist die Begleitmusik dieser Gedichtzeilen, in denen das Herz Englands schlägt.
    Es handelt sich gewiss nicht um »Hochspannungskunst«. Dickens, Tennyson, Burns, sie alle sind eine eher idyllische als existenzielle Erfahrung. Aber nur die größten und reifsten Völker können sich solche Idyllen schenken. Diese Legende von der menschlichen Güte und Milde ist nicht »naiv«, nein: sie ist in aller Demut menschlich.
    Kann man vergessen und verzeihen? … Man »muss«, gewiss; aber ob man auch kann? Zu tief brennt und wütet in den Seelen der Überlebenden die Erinnerung an das Leid der Unschuldigen, als dass man sie mit der gleichgültigen Asche des Vergessens löschen könnte.
    Rache oder Vergeltung sind nicht vonnöten, nein. Die persönliche Verantwortung vor dem Gesetz genügt; denn anders kann man unter Menschen nicht leben, eine solche Rechenschaftspflicht ist unabdingbar. Alles andere bleibt zwecklos und gebiert nur neue Schuld.
    Aber vergessen und verzeihen? … Ich glaube kaum. Weiterleben, ja, das menschliche Schauspiel in all seinem Glanz und Elend beobachten, vielleicht auch arbeiten. Aber vergessen und verzeihen kann ich nicht.
    Ich lese Cholnokys Kaleidoszkop . Er war ein wundersamer Narr, ein ungarischer Amokläufer, der sich mit grenzenlosem Heimweh nach irgendeiner orientalischen Fata- Morgana-Heimat zurücksehnte, aus der er und alles, was er für ungarisch hielt, verbannt worden war.
    Aber während er träumte, studierte er auch; er interessierte sich ebenso für das Geheimnis von Tammuz wie fürs Fliegen oder für Dieselmotoren. Der ungarische Mythos faszinierte ihn genauso wie eine gute Enzyklopädie. Diese übergeschnappten Pseudoungarn, die heutzutage die tollen Parolen einer völkisch-nazistisch-hungarisierenden Lebensart propagieren, könnten sich an diesem sympathischen und traurigen ungarischen Gaukler, der unbedingt wissen wollte, wie die Motoren konstruiert sind, die die Träume der Menschen emporschwingen lassen, ein Beispiel nehmen.
    Die zeitgenössische Literatur kann sich nicht aus der Verantwortung stehlen. Wir haben aus Gier, Eitelkeit und falscher Ambition gerade das versäumt, was unsere vorrangigste Pflicht gewesen wäre: die Erziehung der Gesellschaft, die rücksichtslose Klärung der Begriffe. Diese sittenlose Gesellschaft kann sich zu Recht darauf berufen, dass ihre höchsten Mentoren sie nicht erzogen, sondern nur unterhalten oder »gegeißelt«, über die wahre Bedeutung der wichtigsten – da einfachsten – Begriffe jedoch im Dunkeln gelassen haben.
    Die Vorhut der amerikanischen Armee vor Versailles .
    Versailles sah ich zum letzten Mal an jenem Tag, an dem der von

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