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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Sonette.
    Nicht nach Rache schreien – niemals – und sich nicht entschuldigen. Niemals, bei niemandem.
    Ein Sommer, in dem alles zur vollen Reife gelangt ist. Und jetzt verrottet alles.
    Stendhal schrieb seinen Essay über die Liebe für »dreißig oder vierzig Menschen«. Dieser Essay hat in hundert Jahren unzählige gefunden. Aber ich glaube, es ließen sich keine dreißig oder vierzig Liebende finden, die aus diesem Buch auch nur um einen Buchstaben klüger geworden wären.
    Ich kenne mich noch immer nicht gut genug; und ich werde mich auch niemals ganz kennenlernen. Es gibt in uns eine Art tiefes Gewässer, das von den Scheinwerfern des Verstands nicht erreicht wird. In diesem tiefen Gewässer schwimmen seltsame, groteske, haarig-glimmrige Ungeheuer: unsere Sehnsüchte, Ängste, Erinnerungen.
    Schon seit Wochen gehe ich beim Sirenengeheul nicht mehr in den Keller; ich bleibe in meinem Zimmer, lese oder arbeite. Heute, am Sonntagmorgen, packt mich bei Luftalarm eine höllische Angst; ich renne sofort in den Felsenbunker in der Burg, doch meine Angst legt sich auch dort nicht. Aber es geschieht nichts, es war blinder Alarm.
    Sztójay , der zurückgetretene Ministerpräsident, leidet an Paralyse; er bekommt Spritzen gegen Malaria. Vor Kurzem sagte er in Gesellschaft: »Man muss nicht gleich die Sturmvögel läuten.«
    Nächtlicher Sturm. Ein spätsommerlicher Sturm, der Apfelbäume entwurzelt und die mit Früchten beladenen dicken Äste der Nussbäume knickt. Das zornige, erbitterte Heulen des Windes übertönt für einen Moment den Krieg, als habe auch die Natur schon das Wüten des Menschen satt.
    Am Morgen antwortet der Mensch mit heftigen Bombenangriffen. Die Erde dröhnt, die Welt erbebt. Am Nachmittag ist der Herbst da: übergangslos, herb-kühler Sonnenschein zum Septemberanfang. Marienseide. In der Luft der Duft von Gärung. Eine wunderbare Heiterkeit über der sturm- und bombenzerrissenen Landschaft. Ich lese Shakespeares Sonette im Garten.
    Der Verrat des wunderschönen blonden Jünglings und der brünetten Dame erfüllte ihn, Shakespeare, um 1600 – vor Hamlet – mit großem Schmerz. Der Mensch, und möge er auch Shakespeare heißen, kann sich mit einem solchen Verrat nur schwer abfinden, erst recht, wenn er gerade noch vierzig war. Und dann schreibt der Mensch, erst recht wenn er Shakespeare heißt, einen Othello ; und das nicht ohne Grund.
    Laut Messiaen handelt es sich bei dem blonden Jüngling zweifellos um Shakespeares Freund Essex, Graf von Southampton. Und die brünette Dame ist womöglich eine schwarze Kurtisane, die um 1600 in London viel Furore machte.
    Wilde und Samuel Butler schwören darauf, wohl aus egoistischen Gründen, dass Shakespeare homosexuell war (Sonett 20 u. a.). Viel wahrscheinlicher ist, dass er nur ein Künstler war, der Freundschaft und Liebe auf einmal wollte.
    Ich treffe auf der Straße meinen Übersetzer aus der Schweiz. Wir tauschen uns über das Schicksal gemeinsamer Freunde aus. Die Nachrichten sind nicht gut.
    Wir haben uns seit sechs Monaten nicht gesehen. Er erkundigt sich, ob der schweizerische Verlag, der sich letztes Jahr die Rechte an meinem Roman Die Eifersüchtigen gesichert hatte, ihn schon veröffentlicht hat. Ich habe von dem Verlag seit sechs Monaten nichts mehr gehört; man hat mir den Vertrag und den Vorschuss geschickt, aber seitdem – dem 19. März – schweigt man. Das verlegene Lächeln meines Übersetzers verrät mir die vermutliche Wahrheit: Kein Verlag in der Schweiz darf im Moment das Buch eines ungarischen Schriftstellers veröffentlichen.
    Wegen der Verbrechen einiger mörderischer, sadistischer, habgieriger Schurken stehen wir alle auf dem Index, das ganze Ungarn. Wir stehen vor den gebildeten und moralisch verantwortungsbewussten Völkern Europas gleichsam wie eine diebische, menschenfresserische Zigeunerbande da, in einer Elendssiedlung irgendwo am Rande Europas, wo wir uns mit verdächtigen und widerwärtigen Dingen beschäftigen: mit Hühnerdiebstahl und Aasfresserei. Und das müssen wir – vielleicht Generationen von Ungarn! – wegen einer Handvoll Schurken auf uns nehmen. Aber auch deshalb, weil der Nation die moralischen Abwehrkräfte fehlten.
    Nur ein paar Menschen von Geist können Ungarns Ehre noch retten: Schriftsteller, Wissenschaftler, Künstler, Techniker, Erzieher. Aber wen gibt es hier noch mit der Kraft und der Legitimation zu erziehen?
    Sollte ich überleben und noch einmal ins Ausland fahren, werden die Schweden und

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