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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Dänen, Holländer und Franzosen, Engländer und Portugiesen nach der Vorstellung verstummen, mich frostig mustern, aus dem Fenster blicken, das Thema wechseln. Das wird sehr lange so sein.
    Und ich werde ihnen nicht jedes Mal erzählen können, was für Männer diese Nation zu einer europäischen Nation geformt haben; Männer wie die Könige des Hauses Árpád – ich denke jetzt gar nicht so sehr an Stephan den Heiligen wie an Béla II! –, wie Pázmány und Zrínyi , wie Rákóczi , der einen Privatbesitz von der Größe eines ganzen Landes für die nationale Sache hingab (seine wahre Größe wird immer auf dieser Geste beruhen, die einen mit den eitlen und grausamen Illusionen des alternden Emigranten versöhnt!), wie ihre Dichter und Schriftsteller Berzsenyi, Vörösmarty, Arany, Petőfi, Jókai, Mikszáth , Babits und andere. Das alles werde ich nicht erzählen können, denn man würde mit den Namen von Schuften kontern, die meine Zeitgenossen waren und den guten Ruf einer ganzen Nation für lange, wenn nicht für immer besudelt haben.
    Wieder reisen? Wenn ja, möchte ich vor allem Europa sehen. Gleichgültig, was für ein zahnlückiger, fiebergeschüttelter Krüppel der Kontinent auch sein mag. Ich will die zerstörten europäischen Städte sehen. Ich sehne mich weder nach Amerika noch nach Südamerika. Landschaften interessieren mich nicht; mich interessiert nur der Mensch, immer und ewig nur der europäische Mensch. Ich will weder die Hindus noch das Volk der Tschuringa kennenlernen; ich verzichte auf die menschliche Idylle der Pazifikinseln. Mich interessiert nur jener Mensch, dessen Erlebniswelt die Kultur ist.
    Deshalb möchte ich, sollte ich jemals aus Europa herauskommen, nur nach China fahren; denn auch dort widerfuhr dem Menschen, was auf unserem tragischen Kontinent uns widerfahren ist: Er traf auf eine Kultur und machte eine Lebensform daraus. Nur diese Art Mensch interessiert mich; alles andere ist nur Geografie, Ethnografie, Abenteuer und mir gleichgültig.
    Nomen est omen – Scheffler macht darauf aufmerksam –, nicht umsonst trug diese gotische Seele den Namen Goethe. In seinem rokokohaft-deutschen Temperament schlugen gotische Vorfahren durch; und nicht nur in seinem Namen klingt diese größte Schaffensperiode Europas nach.
    Nachts lese ich Goethes Jugendgedichte. Karl Schefflers hervorragender kleiner Essay trifft es: Goethe war ein »Gelegenheitsdichter«. Die Welt stellte für diese Seele nur ein Mittel zur Selbsterkenntnis dar. Was sich Montaigne und die griechischen und römischen Weisen bewusst vornahmen, war für Goethe ein Gelegenheitsunterfangen. Reisen, Lektüre, das Amt, das weltliche Leben, die Liebe, die Kunst: Er begegnete allen Dingen – absichtslos – mit der unvoreingenommenen Erwartung und heiteren Inbrunst eines Menschen, der sich bewusst ist, dass er und die Welt ein Doppelspiegel sind: Sie bespiegeln sich gegenseitig, zeigen und deuten den jeweils anderen. Diese »Gelegenheiten« sind ein permanentes Phänomen im Rahmen des Lebens von Goethe.
    » Plus un homme est grand artiste, plus il doit désirer les titres et décorations comme rempart« , ruft Stendhal aus, während er über die Liebe doziert. Ich bin nicht einverstanden. Ein Schriftsteller verliert genauso viel an schriftstellerischer Bedeutung, wie er kraft seiner Stellung an gesellschaftlichem Gewicht verdrängt.
    Diese Hornochsen wollen mich töten – Hornochsen aller Art, in allen möglichen Verkleidungen, unter allen möglichen Vorwänden; und im Innersten, im tiefsten Inneren kann ich ein solches Vorhaben nicht gutheißen. Nicht nur, weil das Leben dennoch etwas Herrliches und Absolutes ist und mir selbst in einem solchen Elend, im Griff des Halseisens, eine immer größere Freude bereitet: die Natur, die Pflanzen, die Tiere, die Frauen und Männer, die Lektüre und die Arbeit, alles überbordet mit schmerzhafter Lust. Aber irgendwann muss man ja doch Abschied nehmen, und ob mich diese wütenden Hornochsen oder ein wütender Bazillus tötet, ist letztlich egal. Nein, ich missbillige ihr Vorhaben in erster Linie, weil ich noch arbeiten möchte.
    Stendhal war ein großer Schriftsteller und ein schlechter Liebhaber; er glaubte natürlich – oder tat, als glaube er –, er sei ein schlechter Schriftsteller und ein großer Liebhaber. Alles, was er über den Coup de foudre schreibt, ist naturwissenschaftliches Geschwätz. Die Wirklichkeit ist anders.
    Die Liebenden tun gut daran, sich nach dem ersten Kuss zu

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