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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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verleihen.
    Tag und Nacht Luftalarm. Die Rumänen und Russen haben die Karpaten überquert, kämpfen auf ungarischem Territorium. Sooft ich kann, halte ich mich in Budapest auf, vier, fünf Tage in der Woche. Was ich hier suche? Ich weiß es nicht. Zwischen zwei Luftalarmen besuche ich jemanden, der mir etwas vorjammert, sitze draußen auf einer Bank oder lese in der leeren Wohnung ein Buch. Ich bin ruhig, geradezu unbekümmert.
    Diese Bande von Raubmördern, die sich seit dem 19. März königlich-ungarische Regierung nannte, hat abgedankt . Was werden diese Leute nun tun, außer ihre Haut zu retten? Was geht ihnen jetzt, post festum , durch den Kopf? … Das Land ertrinkt in Schuld. Es wird Generationen dauern, bis sein Ruf, seine Ehre wiederhergestellt sind. Und wir können uns nicht einmal darauf berufen, dass all das unter äußerstem, fremdem Zwang geschehen sei; der Zwang war da, aber das Volk trug willig und spontan das Seine dazu bei, die Schande zu einer historischen Verantwortung zu machen.
    Was meine schönste Erinnerung an diese fünf Jahre ist? Vielleicht der Moment, als ich nach fast überwundener Krankheit das Osterläuten vernahm. Aber das war ein pathetischer Moment. Was war das Schönste? Das ganze Leben war schön, mit allem, auch inmitten des Elends.
    Und was war das Schrecklichste? Von Menschen enttäuscht worden zu sein? Ich weiß es nicht. Viel habe ich von niemandem erwartet. Vielleicht die »letzten Briefe« einiger Freunde. Aber auch das vergeht, zerrinnt mit der Zeit.
    Benvenuto stach immer sofort zu, das stimmt; aber gleich danach machte er sich wieder ans Meißeln, ans Schreiben, ans Malen; das Leben war für ihn genauso eine Kunstgattung wie die Silberschmiedekunst oder die Bildhauerei.
    Der »Übergang«, vor dem sich die vornehmtuerische Mittelklasse so fürchtet, wird mir keine großen Überraschungen bereiten. Längst hat mich die Zeit still und heimlich jedes Privilegs und jeder Bequemlichkeit beraubt. Vor drei Jahren nahm man mir das Recht auf mein kleines Automobil, das die einzige Passion, der einzige Luxus meines Lebens gewesen ist. Die offiziellen Stellen waren der Meinung, ich hätte in einem Krieg kein Recht auf ein solches Privileg, obwohl zur gleichen Zeit Nutten und nichtsnutzige Beamte durch die Stadt kutschierten. Dann nahm mir die Zeit den Arbeitsplatz weg. Seit sechs Monaten kehre ich, halte mein Zimmer sauber, mache mein Bett, putze meine Schuhe, schleppe mich in eigener oder fremder Sache zu Fuß oder in überfüllten Straßenbahnen durch die bombardierte Stadt; mit einem Wort, man hat mir still und beharrlich alles genommen, was meinem Leben einen »bürgerlichen« Anstrich, einen »bürgerlichen« Anschein verliehen hatte. Aber ich vermisse nichts von alledem. Dem »Übergang« sehe ich gleichgültig entgegen: Ich habe keine »Existenz« und auch keinen »bürgerlichen Lebensstil« mehr. Und genauso gleichgültig verfolge ich das Schicksal derer, die dank gewisser Privilegien das alles noch genießen und jetzt wimmernd um ihre Vorrechte fürchten.
    Gott weiß es besser.
    Die Russen und die Rumänen haben die Grenze nach Ungarn überschritten; sie kämpfen im Szeklerland , vor Marosvásárhely, diesseits der Gyimesi- und Ojtozipässe.
    Die neue Regierung hat angesichts der ernsten Lage zwei Verordnungen erlassen : Die eine regelt die Ausgangszeiten für Juden neu – bisher durften sie sich von 11 bis 17 Uhr, fortan dürfen sie sich nur von 12 bis 17 Uhr auf der Straße aufhalten –, die andere ernennt einen neuen Regierungskommissar für Preiskontrolle. Und der erste Schultag wurde auf den 1. Oktober verschoben …
    Das alles hat etwas Schönes, wie alles, was vollkommen und makellos ist.
    Ich kann mich an Cellinis Autobiografie nicht satt lesen. Für Paris zum Beispiel hat er kein Wort übrig; er verachtet alles Französische, die Architektur, die Silberschmiedekunst, die Lebensweise. Er ist leidenschaftlich italienisch. So oft wie möglich sticht er mit seinem Dolch zu; aber dazwischen schafft er Meisterwerke. Von der damals virulenten »französischen Krankheit« erholt er sich nach eigenem Bekunden in drei Wochen; er ernährt sich von Pfauen, das gibt ihm die Lebenskraft wieder (auch Casanova behandelte seine Lues mithilfe von Diäten und konnte damit siebzig Jahre dahinleben …). Beinbruch, Einkerkerung in der Engelsburg, all das bereitet ihm eher Vergnügen als Qualen. Ab und zu, zwischen zwei Dolchstößen oder zwei neuen Silberplastiken, schreibt er auch

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