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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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trennen; sie ziehen sich räumlich und zeitlich voneinander zurück, blicken in sich hinein, warten die Wirkung ab. Und erst Tage später, wenn sich diese Wirkung tatsächlich eingestellt hat, nähern sie sich einander wieder: wenn also nicht mehr der Augenblick, sondern die Wirkung, die der Kuss – diese menschlichste aller Handlungen – in ihrer Seele und ihrem Körper ausgelöst hat, zu ihnen spricht.
    Mit allen Mitteln jung bleiben; natürlich nicht mithilfe kosmetischer Mittel, sondern von innen heraus und bewusst, heldenhaft. Ich habe für alle, die sich aus Feigheit und Bequemlichkeit vorzeitig einen Bart ankleben und in eine künstliche Autorität flüchten, die Autorität des »fortgeschrittenen Alters«, nur Verachtung übrig. Montaigne zitiert Ciceros Bekenntnis – in De senectute –, dass es ihm lieber wäre, nicht lange alt zu sein, als es vorzeitig zu werden.
    Wenn der Großteil der Menschheit den Verstand verliert, nimmt es nicht wunder, dass auch die menschlichen Erfindungen einer Art Geisteskrankheit anheimfallen. Zum Beispiel das Radio; jedes Mal, wenn ich es tagsüber einschalte, murmelt es mit dem Gestammel eines epileptischen Paralytikers Worte wie: »Störflug«, »Luftgefahr«, »Luftalarm«. Ansonsten hat es seinen Wortreichtum und seine einst so große Sprachgewandtheit eingebüßt.

Der Herbst, ein Wunder.
    Als nähme Gott gar nicht zur Kenntnis, was der Mensch, dieser Wurm, auf der wunderbaren Bühne der Welt anstellt.
    Der hiesige Fuhrmann verlangt hundertfünfzig Pengő für einen Tag. Beanstandet man die Höhe der Summe, erwidert er empört: »Zu hoch? Es gibt hier – ich weiß es! – zwei Generäle, die letztens die ganze Nacht Champagner getrunken haben. Ich hingegen trinke zwei Liter Wein und bin gleich betrunken !« …
    In einer verborgenen Nische des Gartens mästet der Gärtner ein Schwein. Ein solches Schwein ist ein großer Schatz heutzutage. Ich bleibe jeden Morgen vor dem Koben stehen und erwidere das freundliche Grunzen des Mastschweins.
    Es hat schon ein ganz ansehnliches Fettpolster; und eine sehr sympathische Schnauze. Ist von lustigem und einnehmendem Wesen. Wir sind uns sichtlich sympathisch. Nie hätte ich gedacht, dass auch ein lebendes Schwein sympathisch sein kann. Alles hat sich verändert, alles.
    Ich betrachte die Landkarte. Die Finnen räumen Karelien . In Siebenbürgen pochen die Russen und die Rumänen an die Grenzen Ungarns.
    Vielleicht ist ein Land in Wahrheit nur das, was als Vorstellung davon in einem Gedicht oder in der Seele einer Nation fortlebt, geht mir durch den Kopf. Alles andere fließt, verblasst, verändert sich. Ungarn könnte die Zeile sein: » Sterbender Schwan , flieg langsam, singe, klinge, Erinnerung …« Nur das ist die Wirklichkeit. Alles andere ist ein Nebelbild, das sich mit der Zeit verflüchtigt.
    Ich lese Goethes Italienische Reise , Tag und Nacht. Wird diese Lektüre die letzte Reise meines Lebens sein?
    Ich habe dieses Buch das erste – und letzte – Mal im Juni 1919 gelesen, in den Monaten von Ungarns kommunistischem Experiment, in einem kleinen Badeort am Plattensee. Die Lebens- und Weltlage von damals und heute begegnen sich auf geradezu unheimliche Weise in dieser Lektüre.
    Am Vormittag wurden die Brücken bombardiert. Seit zwei Tagen gibt es kein Gas mehr in Budapest. Aber es gibt auch keine Panik, nirgendwo; die Menschen sind müde und gleichgültig.
    Die wirkliche Bürde, die Ungarn zu tragen hat, ist nicht, was es getan, sondern was es versäumt hat. Und vor allem das, was es geduldet hat.
    Treffen mit einem Schriftsteller. Wie kriecherisch er ist! Und wie feige: Er sorgt sich mehr um seine Haut als um sein Werk.
    Und Bartók und Rippl-Rónai ? Und Mednyánszky , Szinyei Merse ? … Und Krúdy? Wie ein Kartenspieler, der schon alles verloren hat und am Morgen in seiner Westentasche nach einem vergessenen Goldstück kramt, das er auf den Tisch werfen könnte, um mit einem einzigen Einsatz alles zurückzugewinnen: So suche ich nach diesen Namen.
    Epigonen sind gefährlich; nicht weil sie mich nachahmen, sondern weil ihre Nachahmung, einem Zerrspiegel gleich, mir verrät, wie falsch, wie gefährlich, wie verzerrt es war, was ich im Original für gut und aufrichtig gehalten habe.
    Ich erwache morgens um vier Uhr in völliger, abgrundtiefer Verzweiflung. In diesen frühen Morgenstunden verstehe ich die Selbstmörder.
    Später im Café, beim sonnigen Licht des Herbstmorgens, versuche ich diese Verzweiflung zu begreifen.

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