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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Worin liegt der Grund? Im Krieg? In der Hoffnungslosigkeit meiner persönlichen Lage und dazu in der Hoffnungslosigkeit des Landes, der Kultur, jeder gerechten Sache? Das sind nur Vorwände und Ausflüchte. Oder bin ich krank, habe ich eine pathologische Veranlagung zur Depression? Gewiss habe ich auch das. Aber davon abgesehen bin ich gesund, zäh und ausdauernd (wie es manische Menschen oft sind). Um wen bin ich besorgt? Um mich oder um andere? Ich bin sehr besorgt um einige Menschen und manchmal auch um mich; aber das kommt selten vor.
    Ich bin verzweifelt, weil die Freude in meinem Leben fehlt. Ohne Freude lässt sich nicht leben.
    Das seichte Geschwätz des älteren Rosny über Balzac. Dieser unerträgliche französische Stil der Jahrhundertwende, diese »Direktheit« der Boulevardliteratur; etwas Gekünstelteres, Verlogeneres, Gewollteres lässt sich gar nicht vorstellen. In den Papierkorb damit.
    Brennen, verbrennen.
    Aber rasch noch einen kalten Umschlag, weil ich mich in der Nacht erkältet und Halsschmerzen habe.
    Eine Schauspielschülerin bittet um Erlaubnis, bei ihrer Kammerprüfung den Monolog der Franciska aus Gastspiel vorzutragen.
    Sie ist hübsch, sehr jung, sprüht vor Ehrgeiz und selbstbewusster Zielstrebigkeit. Aber Franciska ist italienisch, katholisch, also vielfältig, vollkommen, absolut und demütig, gläubig und maßlos, fanatisch. In einer besseren Welt könnte sie auch eine Heilige sein.
    Zur Liebe und zur Kunst und um eine Heilige zu sein bedarf es der Demut. Die heutige Generation weiß viel, aber die Demut kennt sie nicht.
    Eine Ärztin, die sich mit der Erziehung nervöser Kinder beschäftigt, erwähnt, dass es für den Typ des nervösen – gewöhnlich nicht unbegabten – Kindes bezeichnend ist, dass es die weiterreichenden Folgen seiner Handlungen nicht voraussehen kann. Sein Urteilsvermögen kann nur die unmittelbaren Folgen ermessen; was über die ersten Folgen hinausgeht, kann es nicht mehr einschätzen.
    An dieser Krankheit leidet auch das Ungarntum. Ungarn sehen im Moment des Handelns meist nur die unmittelbare Reaktion voraus. Das wird ihnen oft zum Verhängnis; so auch jetzt.
    Engländer ermessen im Moment des Handelns auch dessen weiterreichende Folgen. Das macht sie zu einem erwachsenen Volk.
    Diese Gesellschaft behandelt die Möglichkeit einer Invasion ähnlich wie das byzantinische Volk, das den Kopf vor dem Verhängnis senkt und in regloser Stille wartet, dass sein Schicksal sich erfülle.
    Eine Frau erzählt mir ihre Erlebnisse mit einem Gendarmerieoffizier. Sie zeigt mir sein Bild: Unter einem mit Hahnenfedern geschmückten Tschako blickt den Betrachter ein zartes Profil, ein intellektuelles Gesicht an.
    Dieser Mann gehört zu jenen Gendarmerieoffizieren, die die Deportation der ungarischen Juden durchgeführt haben. Als Hauptmann leitete er in der Gegend von Sopron , Sárvár und einiger anderer Städte den Massentod in die Wege. Auch persönlich schlug und trat er die Juden, drängte sie in Gruppen von achtzig Personen in die überfüllten Viehwaggons, trennte über die offiziellen Bestimmungen hinaus Ehepartner voneinander, wenn einer von beiden christlich war, stahl und raubte und so weiter. Jetzt sitzt er – gerade wegen seiner Räubereien – im Militärgefängnis und harrt seines Schicksals.
    Dieser Mann war einst der Bräutigam der jungen Frau gewesen. Er habe Gedichte geschrieben und eine schöne Bibliothek besessen, erzählt sie. Ich frage sie, was für eine Bibliothek er gehabt habe? Sein Lieblingsbuch sei der Roman Die Heilige und ihr Narr gewesen. Drei Jahre war er unsterblich in die Tochter des B…er Rabbiners verliebt und wollte sie ehelichen: Um den Hals trug er ein Goldkettchen mit einem Judenstern. Seine Vorgesetzten verweigerten ihm die Erlaubnis zur Heirat des Mädchens. Daraufhin hätte er mit ihr gebrochen, die Frau sei deportiert worden, der Mann – bis dahin ein Offizier der Armee – habe zur Gendarmerie gewechselt.
    »Es kann mich höchstens das Leben kosten«, sagt man. Aber machen wir uns nichts vor. Dieses »Höchstens« ist auch schon alles.
    Frauen beklagen sich immer, die Männer ließen sich nicht liebkosen. Aber wenn diese Liebe, Zärtlichkeit und Liebkosungen begehren – was sie, die Starken, die Herren der Schöpfung, natürlich hochmütig verbergen –, erschrecken sie bei der ersten Liebesberührung, protestieren, wehren sich und so weiter.
    Liebe zu empfangen ist in der Tat schwer, da die Liebe – Schubart hat recht – stets

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