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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Ankunft der Bolschewiki herbeifleht und der Nuntius sie damit tröstet, dass die Russen nach seinen Informationen schon bei Kenderes ständen.
    Jetzt, da in jeder Sekunde des Tages und der Nacht, in jeglicher, auch persönlicher Hinsicht alles eine Frage von Leben und Tod ist, haben wir endlich begriffen, dass man zu einer neuen Welt nicht gratis Zutritt bekommt, wie sich das so viele erhofft haben. Jeder muss sich seine Eintrittskarte lösen, so oder so; umsonst wird keinem der Zutritt gewährt.
    Was bedeutet schon rechts und links? Heute regiert eine »Rechte«, die im Großen und Ganzen genau das propagiert und verspricht, was sonst die »Linke« will. Dennoch handelt es sich nicht um das Gleiche. Es besteht da ein sehr wesentlicher moralischer Unterschied. Und noch etwas anderes. Briand hat einmal gesagt: »Einem Linken steckt die Zigarre anders im Mund.«
    Die Deutschen bauen Budapest zu einer »Igelstellung« aus; sie graben an den Straßen Kanonen ein und so weiter. Es ist gut möglich, dass Budapest untergeht. Aber vielleicht wird das Land nach alledem leben, so wie es schon vor Budapest ein Land gewesen ist, und damals war seine Bedeutung gewiss nicht am geringsten.
    Die »lieben Ungarn« lauschten, beobachteten die Lage. Im März, als es begann, hegten sie noch Zweifel. »Ob das in Ordnung geht, Schwager?«, fragten sie einander leise und steckten die Köpfe zusammen. »Wird das gut gehen? Werden wir da nicht Schwierigkeiten bekommen?« … Dann, eines Tages, sahen sie, dass es »ging«; die Russen waren noch weit weg, in Frankreich und in Belgien patrouillierten noch die Deutschen; die Juden waren bei der Hand, man konnte sie ausplündern, ermorden. Da krempelten die lieben Ungarn – Minister, Staatssekretäre, Abgeordnete, Notare, Stuhlrichter, Gendarmen sowie das Volk und das Militär, das sich ihnen anschloss – die Ärmel hoch, zwirbelten ihre Schnurrbärte und machten sich mit echt ungarischem Elan an die Arbeit. Und sie sahen, dass es »ging«.
    Acht Monate verstrichen. Der Krieg ging verloren, die Russen klopften an der Soroksárer Straße an. Am selben Tag erschienen einige halbstarke Pfeilkreuzler in grünen Hemden und mit Schulterriemen in einem Arbeitslager für jüdische Frauen und Männer auf der nahe gelegenen Insel Szentendre und zogen den Juden auch noch die Eheringe von den Fingern. Warum? Erstens, weil sie glänzten und aus Gold waren. Sodann weil ihnen eingefallen war, dass auch das ging; die fetteste Beute hatten ihnen allerdings schon geschicktere Gesinnungsgenossen weggeschnappt. »Verdammt, Bruder, die Eheringe!«, sagte einer von ihnen. Und sie machten sich ans Werk.
    Diese Pfeilkreuzler sind gar nicht die wahren Schuldigen. Sie sind wild gewordene Pfadfinder, exaltierte Jünglinge, die ihre verspätete Pubertät austoben. Schuldig gemacht haben sich all jene Ungarn, die in dieser Zeit an ihrem Platz blieben, auf die neue Macht schworen, um ihr Novembergehalt zu retten. Vergessen wir nicht, dass der November der Mietenmonat ist. In dieser Zeit ist die Nation zu keinerlei Protest bereit.
    Das Erstaunliche ist nicht, dass ein paar übergeschnappte politische Hampelmänner im Marmorsaal der königlichen Burg eine staatsrechtliche Komödie – die Vereidigung des »Staatsoberhaupts« – vorspielen; das ist schließlich eine logische Folge der Lage. Das Erstaunliche ist vielmehr, dass sich ein Mitglied des ungarischen Hochadels – der Kronwächter – bereit findet, auf Geheiß der Gestapo die heilige Krone Ungarns herbeizuschaffen und aus der eisernen Kassette zu nehmen, wie von Szálasi-Szaluzsán und Winkelmann , dem Gestapochef, geheißen. Das ist es, was anderswo unvorstellbar wäre. Und das, während die Russen mit ihren Geschützen schon Budapest beschießen.
    Die Welt scheint sich um irgendeine mathematische Achse zu drehen; Gott war in Wahrheit weder Physiker noch Biologe, sondern vor allem und in erster Linie Mathematiker.
    Ich lese Duhamels Essay Les confessions sans pénitences .
    Es ist sehr wahr, was er über Rousseau sagt: Natur ist nicht Gesundheit. Die Natur an sich ist nicht gesund, sie erzeugt nicht nur, sie frisst auch ihre Kinder. Primitive Völker sind von Krankheiten geplagt, Obstbäume sterben ab, wenn der Mensch die grünen Blätter und Knospen nicht spritzt, Insekten verbreiten Seuchen und Krankheiten in aller Welt, der Mensch könnte gar nicht leben, wenn er sich der grausamen Gleichgültigkeit der Natur überließe: Er fiele dem Winter, dem Sturm, der

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