Tagebücher 01 - Literat und Europäer
auch vertikal auswirkt, stellt für alle Gesellschaftssysteme eine unermesslich große Belastungsprobe dar: für den kapitalistischen Staat ebenso wie für die Kommunisten und die Nationalsozialisten. Niemand kann vorhersagen, was nach ihm kommen wird. Vielleicht irgendein viertes System … Ein Kompromiss aus allem, was bisher da war.
Ich packe Mehl, Kartoffeln, Zwiebeln ein und bereite mich vor, nach Budapest zu ziehen, das in Kürze von den Russen belagert und besetzt wird. Ich will in meinem Zimmer, unter meinen Büchern leben und mich der Literatur widmen; bis zum letzten Augenblick, geschehe was mag.
Aber die Mühe ist umsonst: Ich kann unter solchen Umständen nicht arbeiten, mich auf den Roman konzentrieren. Ein Roman erfordert ebenso viel Opferbereitschaft, ja Heldentum wie ein Krieg. Beides auf einmal schaffe ich nervlich und gesundheitlich nicht. Jetzt muss man mit dem Krieg leben.
Ich lese die Briefe Franz Josephs , auf Französisch. Er war kein großer Stilist, das ist allgemein bekannt. Und doch haben seine Briefe etwas Kaiserliches. Aber auch etwas vom Stil eines Feldwebels und eines Wiener Hausmeisters.
Und dennoch ist er ein Kaiser. Er weiß, dass Herrschen nichts anderes bedeutet als zu dienen, seine Pflicht zu erfüllen. Er bleibt bei aller kühlen, ein wenig nach Virginia-Zigarillo riechenden Höflichkeit stets unnahbar. Jeder in der Monarchie wusste, dass es einen, einen einzigen Menschen gab, der es nie verzieh, wenn sich jemand zu einer ehrlosen Tat hinreißen ließ.
Er war nicht klug, er war nicht gebildet; und doch verstand er sich in seiner bürokratischen Art auf die Kunst des Herrschens. Trotz seiner Farblosigkeit war er eine Persönlichkeit; konnte die Geschicke des bunten, sich wandelnden Lebens nach seiner eigenen Persönlichkeit ausrichten. Er verstand sich auf Menschen: Er herrschte.
Gestern wäre es mir beinahe gelungen, ein sechzig Kilo schweres Ferkel zu erstehen; im letzten Augenblick überlegte es sich sein Besitzer anders.
Ich merke, wie sich eine Art Jagdinstinkt meiner bemächtigt. Ich habe in der Tat seit Wochen keinen Bissen Fleisch oder Geflügel gegessen. Jetzt verhandele ich ernsthaft über einige Hühner. Mir fällt Chaplin ein, wie er in Goldrausch entsetzt vor seinem Partner flieht, der ihn in seinem Hungerdelirium für Geflügel hält …
Am Abend stoße ich auf einen Koffer, in dem ich im Frühjahr Kleider, Unterwäsche, Manuskripte versteckt habe.
Das Wiedersehen ist zärtlich, bewegt. Ich entdecke drei Hemden, sechs Unterhosen und zwei Manuskripte. Ich wusste gar nicht, dass ich so reich bin! Vor allem die Unterhosen, Hemden und Taschentücher befühle ich andächtig. Manuskripte wird es schließlich immer wieder geben, auch in der kommenden Zeit. Aber Unterwäsche, und dazu in dieser Qualität, wird man in den Läden noch lange nicht finden; und wenn doch, dann gewiss nicht für mich.
Wie wird es sein? Wenn Budapest nicht in Trümmer geschossen wird, die Russen einmarschieren, und zwei Wochen später die Stadt wieder genauso leben kann wie zuvor?
Leben, ja, aber nicht so … und es kann vielleicht sehr anstrengend, ja zuweilen tragisch sein; und es wird kein Fehler sein. Denn so konnte es wirklich nicht mehr weitergehen.
Ich möchte noch Gedichte schreiben, mindestens ein Dutzend. Worüber? Über den Tod, die Liebe, den Herbst, das Unbegreifliche und Erhabene. Dann möchte ich nach Rom fahren, in meinem eigenen Wagen. Möchte in Rom goldgelben Wein trinken und im Morgengrauen, während der Regen die Platanen wäscht, ruhig einschlafen.
Budapests intellektuelle Partisanen, lauter enthusiastische Kinder. Alles, was sie tun und sagen, erinnert an einen Taubenzüchterverein.
Und doch liegt manchmal gerade in dieser enthusiastischen Blauäugigkeit die Kraft, die hoffnungslos verrottete Dinge verändern kann.
Horthys Proklamation wird mittags um halb zwei im Radio verlesen. Gegen halb fünf das erste verdächtige Signal: die Durchsage des Generalstabschefs, der die Truppen ermuntert, den Kampf unverzagt fortzusetzen. Um neun Uhr abends Szálasis »Einsatzbefehl«. Der längste Einsatzbefehl der Geschichte. Schwülstige, bombastische, sinnlose, hohle Phrasendrescherei; an seiner Beredsamkeit erkennt man den Geisteskranken, der lange zum Schweigen verurteilt war und nun glücklich ist, endlich reden zu können. Es folgt ein Pfeilkreuzler-Verschen über die »Scholle«. Das alles klingt eher peinlich amüsant als ernst; und doch auch verhängnisvoll,
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