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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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Hitze, der Dürre zum Opfer. Ohne Haus, ohne Landwirtschaft, ohne Weitsicht würde er im Winter hinweggerafft wie die Feldmäuse. Nein, die Natur wird erst gesund, wenn der Mensch ihren mörderischen und gleichgültigen Verschwendungstrieb durch seine Weitsicht, seine bewahrenden und beschützenden Eingriffe korrigiert, ihr zuvorkommt, sie lenkt.
    G ., der nun selbst unter Stubenarrest lebt, behauptet, der Mensch entwickle sich zu immer kleineren Formen; er kehre gleichsam zurück zur Daseinsform der Kriechtiere. Er glaubt, der Mensch sei noch sehr jung, vielleicht nicht einmal eine Million Jahre alt.
    Ich lese Neuropathologische Syndrome von Kroll , dem Neurologen der Universität Minsk. Ein hervorragendes Buch, es systematisiert ein außerordentlich umfassendes klinisches Material, filtert daraus geschickt sein eigenes Material und zieht einfache Schlussfolgerungen.
    Neben zahllosen anderen wissenswerten, mir bisher unbekannten Fakten erfahre ich aus diesem Buch, dass auch die Malaria stark neurotrop ist; Krankheiten wie Ischias, Radikulitis und Neuritis können ebenso gut von Malaria wie von einer Ansteckung mit Lues und Tuberkulose ausgelöst werden oder als Folge von Alkohol, Nikotin, Blei, Arsen usw. entstehen.
    Alles hängt davon ab, ob ich den Satz, mit dem ich etwas über mich oder die Welt aussagen will, noch mit genügend elektrischer Energie versehen kann. Diesen Strom entzieht mir im Lauf der Jahre die Welt, dieser hinterlistige Stromdieb.
    Die Leidenschaft war mehr als die Lust, der Verstand mehr als die Wahrheit, die er erkannte und zum Ausdruck brachte.
    Ein »Leben ohne Angst«, wie es Roosevelt verspricht, ist nur zu verwirklichen: indem man eines Tages beschließt, fortan keine Angst mehr zu haben.
    Am Nachmittag zu Fuß nach Szentendre. Beim Bäcker bekomme ich zwei Kilo Brot. Ich verpasse das Nachmittagsschiff, irre bis zum Abend im Regen umher, dann gehe ich – zum ersten Mal in den acht Monaten – ins hiesige Kino, wo ein antibolschewistischer Tendenzfilm, eine Art italienischer Jud Süß , gezeigt wird. Der öde Raum ist voll deutscher Soldaten, die weder die italienischen Dialoge noch die ungarischen Untertitel verstehen. Sie sitzen da, weil sie leben und darauf warten, nach Szolnok oder anderswohin an die Front geschickt zu werden.
    Auf dem Abendschiff finde ich neben einem Eisenbahner Platz. Mein Reisegefährte erzählt mir in der Dunkelheit von seinen Erlebnissen in Russland, er ist sehr mitteilsam. Einmal habe ihn ein russischer Major an der Front auf Ungarisch angesprochen; er sei Jude und früher in der Üllöistraße in Budapest Anwalt gewesen. Der Major habe die ungarischen Kriegsgefangenen bewirtet und zu ihren Truppen zurückgeschickt. »Wir tranken ständig Wodka da draußen, aßen Lammbraten mit Gurken«, sagt er. Das alles erzählt er zufrieden, wie eine angenehme Erinnerung.
    An der dunklen, verregneten Schiffshaltestelle eine Stimmung wie in Wladiwostok. Die regennassen Pelzjacken verbreiten den Gestank von Armut und Hoffnungslosigkeit. Irgendjemand hat Pilze dabei, man betastet gierig den Sack, mustert heißhungrig den herb-moderigen Stoff.
    Eines Nachmittags, nach einem Regen, ein silbrigblauer Schimmer über der Donau. Die Bäume am Ufer des seichten Wassers wie auf einem englischen Gemälde aus dem letzten Jahrhundert. Feenreich. Stille. Weiser, wohlriechender Herbst.
    Bei Szolnok , keine hundert Kilometer entfernt, erbitterte Panzerschlachten.
    Ich bin ein Reiter beim Hindernisrennen, ein paar Gräben und Hecken habe ich bereits übersprungen … werde ich auch den Rest schaffen? Ich verlasse eine Gefahrenzone, um in eine neue zu geraten: Das ist alles, was mir passieren kann.
    Dennoch fürchte ich mich nicht, bin nicht enttäuscht, nicht gekränkt. Ich erwache im Morgengrauen mit einem Gefühl von Beklommenheit; doch dann reibe ich mir den Schlaf und die Beklommenheit aus den Augen, und schon bin ich neugierig.
    Wie kläglich diese tägliche deutsche – und ungarische – Propaganda ist, die die Niederlage im Jargon der Kriegsberichte zu verklären versucht! Wie unwürdig eines großen Volkes diese »erfolgreichen« und »planmäßigen« Rückzüge sind! Sie sollen zugeben, dass sie den Krieg verloren haben: Das weiß ohnehin jeder. Dieses Bekenntnis wäre des vielen Leides würdiger als die verschnörkelten, unverständlichen Entstellungen.
    Alle Weltanschauungen, die den Menschen nur als Material eines bestimmten Gesellschaftssystems sehen, sind menschenfeindlich;

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