Tagebücher 01 - Literat und Europäer
unausweichlich; Ungarn muss sämtliche Gänge dieses bitteren Menüs auslöffeln. Angefangen hatte es mit Darányi, der »den Wind aus den Segeln nehmen wollte«, und mit Gömbös, der die Nation mit den gleichen hohlen, schwülstigen Phrasen in seinen Bann schlug, und nach dem paralytischen Sztójay wird der geisteskranke Szálasi nun vielleicht der Letzte in diesem Chorgesang sein.
Diese musikalische Geschichtsstunde wird von folgenden Programmpunkten begleitet: Zwischen fünf Uhr nachmittags und Mitternacht gibt es Kammermusik, Zigeunermusik, Kirchenmusik mit Orgel, Barlieder, den lyrischen »Aufruf«, die Hymne, und versehentlich auch den Horthy-Marsch. Dieses Potpourri passte wunderbar zum Einsatzbefehl und zum Text der Rede.
Die Russen in Kecskemét . Wenn sie Budapest nicht innerhalb von drei Tagen erreichen, schwebt das Budapester Judentum in tödlicher Gefahr.
Was war am schönsten? Ich weiß es nicht. Alles.
Was war am schlimmsten? Wenn ich eine Arbeit tat, zu der ich keine Lust hatte; und die Langeweile.
Das Leben ist wirklich unfassbarer als alles andere. Hätte jemand vor einem halben Jahr prophezeit, es werde der Tag kommen, an dem Horthy und seine Entourage irgendwo in der Burg bang und hoffnungsvoll die Ankunft der bolschewistischen Befreier erwarten … Und doch ist dieser Tag gekommen.
Lauer, überreifer, nach Früchten duftender, leicht nebliger Herbst. Die Nation zuckt im Veitstanz, es gibt kein Staatsoberhaupt, keine Regierung, keine Zentralmacht, es gibt nur Terror und Krieg, Flüchtlinge, Bomben – aber die Landschaft ist still, friedlich und zufrieden wie eine stillende Frau.
Ich verrichte in diesen Tagen nützliche Arbeiten. Habe vier Ster Holz besorgt und in den Keller getragen, Kartoffeln, Mehl, Walnüsse besorgt und versucht, diese Schätze zu verstecken, damit wir im Dezember und Januar nicht verhungern. Ich habe auch ein zwanzig Kilo schweres Ferkel erstanden, aber das haben wir gierig verschlungen: Wir hatten seit Wochen kein Fleisch gegessen.
Viele von uns in Ungarn dachten in den vergangenen Monaten, wir befänden uns schon auf dem Höllengrund. Seit zwei Tagen wissen wir, dass es auch vom Höllengrund noch weiter abwärtsgehen kann; als habe sich eine Falltür geöffnet, als empfinge uns nun eine noch tiefere, noch übler riechende Verdammnis als bisher.
Die Budapester Juden werden massenweise zu den frostigen Richtstätten getrieben. Die deutschen Henker und ihre ungarischen Schinder entscheiden in diesen Stunden über das Leben von dreihunderttausend Menschen. In manchen Häusern sollen sich Juden mit Waffengewalt zur Wehr setzen; und das ist in der Tat das Klügste, was sie tun können; die Verteidigung wird in der Praxis nicht viel nützen, aber es ist immer noch ein besserer Tod, als wenn sie das Schicksal abwarten, das die Henkersknechte für sie bestimmt haben – und für uns alle, die sie hassen und die von ihnen gehasst werden.
Für all das ist die Nation nicht mehr verantwortlich; das ist unser einziger Trost. Dennoch ist es traurig, dass ungarisch sprechende Menschen – und mögen sie noch so erbärmlich sein – bereit waren, auf Geheiß der deutschen Bajonette diese Rolle auf sich zu nehmen. Solche Menschen hat es in Finnland, in Bulgarien, in Rumänien nicht gegeben. Und das ist ein gewaltiger Unterschied. Die Mehrheit dieses Landes ist aufrichtig reaktionär und deutschfreundlich. Der hiesige Prolet findet Gefallen an jeder Art gestiefelter, uniformierter Reaktion; er ist zu feige, um diese Rolle von sich aus zu spielen, aber wenn er dazu angehalten wird, klatscht er vor Freude.
Es gibt im Leben eines Einzelnen wie auch eines Volkes Tage, an denen sich das gewohnte und vertraute Antlitz der Dinge gespenstisch verwandelt, alles Intime und Vertraute eine groteske Fratze, eine Grimasse zu schneiden scheint, ein Land seiner Zeit mit einem historischen Grinsen ins Gesicht starrt … Solche Tage erleben wir jetzt.
Die Deutschen sind wahrhaftige Zauberer. Sie haben das Wunder vollbracht, dass jeder anständige Mensch innig und aufrichtig die Ankunft der Russen, der Bolschewiki herbeisehnt, die als echte Befreier kommen. So erwarte auch ich sie. Es ist eine lange Reise, die wir in diesen zwei Tagen … zwei Tagen, zwei Monaten, fünfundzwanzig Jahren zurückgelegt haben.
Die Zauberei der Deutschen hat das Wunder vollbracht, dass die Frau des Reichsverwesers in diesem Augenblick in einem Zimmer der Nuntiatur – wohin sie angeblich geflüchtet ist – die
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