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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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sie leugnen jedes menschliche und göttliche Recht. Der Mensch ist mehr als nur ein Bindemittel in irgendeinem Gesellschaftssystem.
    Sie sind unbelehrbar. Als vor einer Woche die Waffenruhe verkündet wurde , johlten sie froh und begeistert. Als sie ein paar Stunden später erfuhren, dass der Entschluss seinen Preis hat, machten sie sich plötzlich klein, flohen die Nähe gefährlicher Leute wie eine pestverseuchte Gegend. Ich kann keinem mehr böse sein. Ich beobachte sie nur: Sie sind, wie sie sind, weil sie Menschen sind.
    Meinen Körper beobachten, als sei er ein Tier.
    Der Tod erscheint mir im Halbschlaf nicht mehr als grinsendes Ungeheuer mit klappernden Knochen, sondern eher als eine Art dunkelfleischige Sarazenenmama, die mich herzlich in ihre weichen schwarzen Arme schließt.
    Eine Nacht in Budapest. Ich suche in der Dunkelheit unbemerkt meine Wohnung auf. Der Hausmeister empfängt mich mit der überraschenden Nachricht, dass die Nazis in der Nacht des Putsches vier Kugeln durch die Jalousien und Fensterscheiben meiner Wohnung geschossen haben; dann hätten sie ihn mit Waffengewalt gezwungen, die Wohnung aufzuschließen, denn dort oben »versteckte sich jemand, der vom Balkon Schüsse abgegeben hat«. Sie hätten die Wohnung durchsucht, aber niemanden gefunden, dann – so der Hausmeister – »haben sie die Asche und die Zigarettenstummel im Aschenbecher untersucht, ob sie nicht noch warm wären, und die Bücherregale bestaunt«. Dann seien sie weggegangen.
    Hätten sie mich zufällig in der Wohnung angetroffen – und ich habe neuerdings stets eine Waffe bei mir –, hätten sie mich erschossen oder verschleppt.
    Eine der Kugeln drang durch L. s Schlafzimmerfenster ein, durchschlug die Wand des Kleiderschranks und durchbohrte L. s Garderobe. Die anderen drei Kugeln zerrissen die Speisezimmerfenster und blieben in der Decke stecken.
    Der Verteidigungsminister der Regierung Károlyi sagte am Ende des letzten Krieges, er wolle keine Soldaten mehr sehen. Die Zeit vergeht; und ich bin bald so weit, dass ich auch keine Zivilisten mehr sehen mag.
    Sie marschieren immer vorneweg, jetzt wie eh und je: der Hanswurst und der schlechte Schreiberling.
    Budapest ist ein reichlich abenteuerlicher Ort in diesen Tagen; es ist nicht ratsam, sich tagsüber auf der Straße zu zeigen, es gibt viele persönliche Denunziationen. Junge Männer in Stiefeln und grünen Hemden patrouillieren mit Maschinenpistolen in den Straßen. Es herrscht totaler, bedingungsloser Terror. Der Krieg in der Tiefebene keucht erschöpft, kommt zum Erliegen. Die Deutschen haben neue Truppen nach Szolnok verschoben und Nyíregyháza zurückerobert . Die Engländer fliegen seit zehn Tagen keine Bombenangriffe mehr auf die ungarischen Kriegsschauplätze, unbegreiflicherweise stören sie den hiesigen deutschen Aufmarsch nicht.
    Maeterlincks Buch über die Termiten.
    Maeterlinck ist ehrlich sympathisch in diesen Büchern. Er hat sich eines Tages vom Ahnungsvollen, Wehleidigen, Raunenden, Symbolträchtigen wieder der Welt zugewandt und mit der Inbrunst eines Dichters das Ahnungsvolle und Übernatürliche in der Wirklichkeit und im Einfachen erspürt und ausgedrückt. Wenn er über Bienen, Blumen, Ameisen und Termiten schreibt, ist er ein wahrhaftiger Dichter. Wenn er über den blauen Vogel schreibt, ist er nur dichterisch.
    Ein wunderbarer Instinkt leitet den Menschen beim Versuch, eine zeitgemäße, zu seiner Lebenslage passende Lektüre zu finden. Maeterlincks Buch über die Termiten steht seit Jahren auf meinem Regal; ich zog es jetzt instinktiv heraus und begann darin zu lesen. Die Welt der Termiten ist die kollektive Gesellschaft in Vollendung. Eine Existenzform, die allen Formen menschlicher Existenz um viele Millionen Jahre vorausging, bleibt dem Menschen ein düsteres Vorbild, ein düsterer Wegweiser.
    Es ist gut möglich, dass am Ende die Insekten über die organische Welt herrschen, alles erobern und vernichten werden. Schließlich ist auch der Humus nichts anderes als das geheimnisvolle, verrottete Überbleibsel einer von Bakterien zersetzten Vegetation.
    Das, was der Dichter » esprit de la ruche « nennt, ist letztlich auch nichts anderes als der unbekannte Geist, der das ganze Zellgebilde des menschlichen Organismus durchdringt. Ich, Herr Márai, entscheide nicht allein, meine Körper-, Nerven-, Knochenzellen entscheiden mit, rebellieren in Form von Krankheiten und so weiter. Wie die Termiten bilden auch diese Zellen eine Einheit und

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