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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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schnüffelnde, sein Christentum feilbietende Kleinbürgertum: Sie alle schöpften Mut aus diesem Denkmal.
    Nun ist das Denkmal gefallen. Und auch der Geist, den dieses Denkmal symbolisierte, liegt in den letzten Zügen. Vielleicht wird auch das, was jetzt kommt, nicht besser sein; ich beobachte die menschliche Substanz der Ungarn mit wachsender Unruhe und Skepsis. Als Lehre bleibt jedenfalls, dass man lieber hundert Jahre warten sollte, bevor man jemandem ein Denkmal setzt.
    Kosztolányi starb zur gleichen Zeit wie Gömbös; und bis heute gibt es kein Grabmal für ihn. Und was das Tisza-Denkmal betrifft … ich bin mir nicht sicher, ob man nicht auch mit diesem Denkmal dem historischen Urteil allzu schnell vorgegriffen hat.
    In Zeiten großer Umwälzungen, wie wir sie auch heute erleben, stellen stets jene eifersüchtigen, untalentierten Rivalen unter meinen Berufsgenossen die wirkliche Gefahr dar, die nun endlich einen Knüppel in die Hand bekommen, um den Disput, den sie im professionellen Wettstreit nicht erfolgreich bestehen konnten, jetzt mit einer Geste der Macht zu beenden.
    Die immer größeren Menschenmassen haben in allen Berufssparten Massen von unfähigen Rivalen herangezüchtet, die niemanden so sehr hassen wie denjenigen, der Talent hat. Wenn sich ihnen die Möglichkeit bietet – und jetzt bietet sie sich ihnen –, bringen sie ihn um.
    Es galt jedenfalls der Grundsatz, dass man den gemeinen Bürger bei der Behörde erst einmal warten ließ, wenn er kam, um – sagen wir – seine Steuern zu zahlen; Steuern, von denen der Beamte, der ihn warten ließ, lebte.
    Der Gärtner hat viele Kinder. Hin und wieder stößt auch noch das eine oder andere illegitime Enkelkind zu dieser Gänseschar hinzu.
    Das ist schön und gut. Aber es beeindruckt mich nicht mehr. Mich interessiert nicht die Quantität, nur noch die Qualität. Diese künstliche, staatlich animierte und geförderte Menschenzüchtung zählt überhaupt nichts. Die Deutschen und die Italiener sollten nicht so viele Kinder zeugen. Und auch die Ungarn würden besser weniger Kinder machen; sie sollten vielmehr begabte, gebildete und entsprechend erzogene Menschen hervorbringen. Es gibt drei Millionen Dänen, vier Millionen Finnen und Schweizer; dennoch sind es große Nationen. Die Größe einer Nation lässt sich nicht in Zahlen messen. Und vielleicht werden es unter all den blindwütig marodierenden großen Völkern nur die kleinen Nationen sein, die das Erbe der europäischen Kultur wahren. Und das zählt mehr als so und so viele mittelmäßige Menschen.
    Es war so: Ich benutzte ausschließlich zwei Sorten Seife, entweder Peau d’Espagne oder Bon gros von Roger & Gallet. Beim Mundwasser kam natürlich nur eine Sorte in Frage: das französische Botot. Zum Rasieren benutzte ich eine Seife von Colgate, anschließend rieb ich mir das Gesicht mit Yardley-Lavendel ein. Der Drogist versuchte gar nicht erst, mir etwas anderes zu empfehlen.
    Das fällt mir ein, während ich mich wasche und vergeblich abmühe, ein wenig Seifenschaum aus der Einheitsseife zu reiben. Und mir dabei denke, wie völlig gleichgültig das eigentlich ist.
    Die russischen Truppen stehen achtzig Kilometer vor Budapest. Und doch ist es beängstigend ruhig in der Stadt. Jemand hat Shaws Candida gesehen, das Theater war zu zwei Dritteln besetzt. Ein paar kompromittierte Menschen des öffentlichen Lebens sowie einige unbedeutende Leute, die sich in bestimmten Parteien oder bei der Plünderung jüdischer Wohnungen hervorgetan haben, befinden sich auf der Flucht; der Gastwirt von nebenan, ein Anwalt, lärmende Schauspieler und Journalisten verdrücken sich unauffällig in Richtung Landesgrenze. Ansonsten geheimnisvolle Ruhe.
    Was bedeutet diese Ruhe? Klugheit? Einsicht in die Lebenswirklichkeit? Vielleicht. Auf keinen Fall die Ruhe des guten Gewissens. Oder doch nur Erschöpfung, Gleichgültigkeit? Obwohl die Russen Kolozsvár, Várad, Szeged, Szabadka erobert haben, ist Budapest – im sechsten Jahr des Krieges – noch immer nicht am Ende. Eigentlich befürchtet man nur, dass die Deutschen die Stadt verteidigen und die Donaubrücken sprengen.
    Und jetzt spüren alle, wie sehr die wahre Bedeutung Ungarns in diesem »sündigen, zynischen« Budapest liegt. Sollte diese Stadt – »nach der Zerstörung der militärisch relevanten Ziele« – zugrunde gehen, wäre auch Ungarn tödlich getroffen.
    Dieser Krieg, der sich im militärischen wie gesellschaftlichen Sinn des Wortes sowohl horizontal als

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