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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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unterliegen einer Art Kontrolle, die meinen Verstand übersteigt.
    Ich erwache am Morgen mit heftigen Schmerzen im Kiefer, kann nicht mehr kauen; bis zum Abend ist mein Gesicht angeschwollen. Was ist passiert? Vielleicht wird es sich herausstellen, vielleicht auch nicht; vielleicht vergeht es, vielleicht werde ich einen Arzt benötigen; jedenfalls findet in meinem Organismus, ohne dass ich davon wüsste oder es rational beeinflussen könnte, eine Rebellion und Revolution statt. Ja, auch ein Körper hat Esprit, nicht nur ein Bienenkorb.
    Man wird also eine Machtorganisation schaffen, die über den Frieden wacht. So wird es kommen, denn etwas anderes bleibt ihnen nicht übrig.
    Aber dauerhaften Frieden wird auch diese Organisation nicht schaffen können, und sei sie noch so perfekt; gerade weil sie perfekt, weil sie mächtig, weil sie eine Organisation ist: Sie wird unweigerlich den Krieg in Erinnerung rufen. Wann? Morgen oder in fünfzig Jahren; an den Folgen wird das nichts ändern.
    Auf diesem Wege ist der Mensch nicht zu befrieden. Frieden wird er nur in sich finden, wenn er seine wahre Natur und die Welt erkennt. Außerdem weiß ich gar nicht, ob es unbedingt nötig ist, dass der Mensch in Frieden lebt. Die Ziele der Natur sind uns unbekannt, und der Mensch ist nichts als ein ausführendes Organ der Natur.
    Was kommt auf uns zu? Man muss keine prophetische Gabe besitzen, um zu erkennen: Es kann nur das kommen, was sich aus dem vorliegenden Material und dessen Qualität ergibt.
    Vielleicht bleiben Budapest nennenswerte Schäden erspart; vielleicht bleiben von ihm wie von Aachen nur einige Keller und Brandmauern übrig. Es wird jedenfalls zu einer Besatzung, zu Nahrungsmittel- und Heizmittelknappheit, zu Entente-Missionen und Elend kommen. Alles andere wird sich mit mathematischer Folgerichtigkeit daraus ergeben.
    Es ist nicht unvorstellbar – ja, für mich wird es immer wahrscheinlicher –, dass es Gesellschaftsformen gibt, die nicht aus organischen, sondern aus mathematischen Individuen bestehen.
    Allen Gefahren, die einem im Leben drohen – Krankheit, Knechtschaft, Folter, der Tod der Liebsten, der eigene Tod –, mit derselben Gleichgültigkeit begegnen, mit der man unter einem Mikroskop das Wachstum und den Zerfall einer Bakterienkultur beobachtet. Es war Voltaire, wenn ich mich recht erinnere, der gesagt hat, dass es nur eine Möglichkeit gibt, glücklich zu sein: wenn man keine Gefühle hat.
    Die Jugend war doch schöner als die Erinnerung daran.
    Wenn jemand in China Kaiser ist, ist er der Kaiser von China. Wenn jemand in Berlin wahnsinnig ist und sich einbildet, der Kaiser von China zu sein, dann ist er wahnsinnig. Wenn aber jemand in Berlin wahnsinnig ist und sich einbildet, der Kaiser von China zu sein, und dies laut ausspricht, und wenn sich eine Nation findet, die ihm das auch noch glaubt, dann ist das Geschichte. Das geschah mit Hitler und dem deutschen Volk.
    Kretschmers Buch über geniale Menschen.
    Das Porträt Goethes in siebenjährigen Zyklen ist hervorragend. Das Porträt Bismarcks ist wirr. Zur Psychologie Hölderlins und Rousseaus sagt er nichts Neues. Sein Entwurf über die Möglichkeiten der Geniezüchtung bei Mischrassen ist zu allgemein, kaum belegt und schwer nachprüfbar.
    Ich stimme ihm zu, dass ein Genie sowohl gesund als auch krank ist, sowohl etwas Robustes, Handfestes als auch etwas Pathologisches hat; vor allem aber jemand ist, dem ein Dämon innewohnt. Und ich würde hinzufügen, jemand ist, der auch hört, was ihm sein Dämon einflüstert. Denn vermutlich haben viele Durchschnittsmenschen Dämonen, nur kein Gehör für das, was ihnen dieser Geist einflüstert.
    Der »manisch-depressive« Goethe war sich seiner Zyklen bewusst und lenkte sie. Schizophrene Menschen rufen ihre Anfälle auch herbei, desgleichen Epileptiker und Gichtkranke. Den epileptischen Anfällen Mohammeds und des heiligen Paulus ging ein fast schon bewusstes Warten voraus; Dostojewski beschwor diese Gefahr und Befriedigung mit geradezu lustvoller Vorfreude herauf.
    Ein großer Manisch-Depressiver, den Kretschmer nicht erwähnt, dessen Krankheitsbild auch einmal aus medizinischer Sicht gezeichnet werden sollte, war Tolstoi.
    Was wirklich zählt, ist gewiss nicht der Weltkrieg, sind nicht künstliche Friedensabkommen, was wirklich zählt, sind Bach, Mozart, Beethoven, Michelangelo, Goethe und Shakespeare. Alles andere ist nur Zwischenspiel und bei allem Schrecken etwas Langweiliges und Gleichgültiges.
    Einmal

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