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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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durch ihre Untaten die Ehre des Ungarntums besudelt haben, nicht zimperlich sein.
    Sie sind so durch und durch korrupt, dass sie nicht nur keines Mitleids, sondern auch keiner Anklage wert sind. Man kann sie nur wegfegen, so wie sie sind.
    Nordwind, eisiger Novemberregen. Zehntausende Budapester Juden werden an unbekannten Sammelstellen zusammengetrieben. Frauen, Kinder, Greise schleppen sich durch den strömenden Regen. Ein junger Hauptmann, der achtzehn Monate an der Front verbracht hat, bekommt beim Anblick dieses Zuges einen Nervenzusammenbruch.
    Es gibt keine »Wiedergutmachung« für solche Verbrechen. Auch die Vergeltung wird keine Wiedergutmachung sein. P . ist in den Gaskammern von Auschwitz, wohin er Ende Mai verschleppt wurde, gewiss schon umgekommen ; und sollte er doch noch leben, unter welchen Umständen? Ein Sechsundsiebzigjähriger ohne Winterkleidung, ohne alles … L . hofft, dass er noch am Leben ist, und ich wage nicht, ihr zu sagen: Es wäre besser, er lebte nicht, denn die Leiden der Deportierten sind unvorstellbar.
    Und es fanden sich Ungarn bereit, bei alldem mitzumachen … fanden sich bereit? Sie standen Schlange, um dabei behilflich zu sein.
    Zum Mittagessen Besuch von zwei Nonnen. Sie erzählen, das Kloster habe ihnen vor einigen Wochen angesichts des Vorrückens der Russen freigestellt, bürgerliche Kleidung zu tragen, falls sie Angst haben. Sie hätten vorige Woche eine Modenschau veranstaltet; eine fortschrittliche Gruppe habe für modische Kleidung plädiert, eine konservative sich mit einer Art Rotkreuzschwesterntracht zufriedengegeben. Die fortschrittliche habe gewonnen.
    Die Russen sind inzwischen in Zs. einmarschiert, wo sich das Kloster des Ordens befindet; sie haben niemandem etwas zuleide getan. Die Schwestern haben sich beruhigt und tragen wieder ihre Ordenstracht.
    Lange sprach der Europäer ruhig und vertrauensvoll: »Mein Gott.« Dann sprach er plötzlich aufbrausend, mit düsterer, bedrohlicher Stimme: »Meine Religion«. Dann begann er, haspelnd vor Aufregung, nachzuplappern: »Meine Heimat, meine Nation«. Jetzt kreischt er mit blutunterlaufenen Augen und tollwütigem Gestotter: »Meine Rasse«.
    In diesem Augenblick hat er aufgehört, ein Europäer zu sein.
    Ich finde Trost bei Emerson: Er hat etwas von einem methodistischen Prediger und Quäker, aber auch von einem Dichter. Ich kenne tiefsinnigere Denker, aber kaum einen, dessen Vorsätze reiner, engelhafter wären.
    Wir füllen für den Winter Schmalz in Gläser ab … Wie widerwärtig diese kluge Voraussicht ist, wie erniedrigend und alles in allem vielleicht sogar überflüssig. Der heilige Franziskus hatte recht, sich nackt auf die Erde zu legen.
    Am Vormittag tauchen – in Begleitung eines Finanzbeamten – Typen in Ledermänteln bei uns im Haus auf und fordern die Bewohner der Villa feierlich auf, »Textilien« und Weinfässer, die zum Besitz des jüdischen Eigentümers der Villa gehören, herauszugeben. Ich lehne ihre Bitte ab und komplimentiere sie hinaus. Sie gehen murrend und versprechen wiederzukommen.
    Während dieser viertelstündigen zeitgemäßen Unterhaltung ist vom gegenüberliegenden Donauufer Geschützdonner zu hören, die Antwort der russischen Artillerie.
    »Doch der Herr wusste Jeremias zu verstecken …« Aber wusste Jeremias etwas davon? Schließlich musste auch er etwas dafür tun.
    Die Regeln des heiligen Benedikt lehren, dass das Geheimnis jeder guten Lebensführung Schweigen und Mäßigung sind.
    Aber es wird auch anderes gelehrt. Und alle, denen irgendwann in nächster Zeit die Aufgabe bevorsteht, über gewisse Menschen, die diese schrecklichen Verbrechen im Namen von »Partei« und »Weltanschauung« begangen haben, zu richten, sollten sich die Worte der Schrift, die der heilige Benedikt zitiert, gut einprägen: » Mit Worten lässt ein Sklave sich nicht bessern.« Und wo das Wort nicht fruchtet, empfiehlt er die Rute.
    Dieser Rat ist hart … aber allmählich leuchtet er uns ein. Während wir, Schriftsteller und Erzieher, den Humanismus predigten, frönten gewisse Menschen fröhlich ihren blutigen Abenteuern. Wir predigten Verzeihung, doch vor unseren Augen wurden Menschenmassen ausgerottet. Wir wollten erziehen, aber sie warfen uns fröhlich grölend Knüppel an die Köpfe. Wir sollten endlich begreifen, dass es gewisse Menschen gibt – »die Sklaven« –, die man nicht anders erziehen kann, als sie zu zwingen, ihre bösen und sturen Köpfe über ihre Untaten zu beugen. Schuldig sind

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