Tagebücher 01 - Literat und Europäer
jedoch nicht nur die, die diese Untaten begangen haben, obwohl auch sie für »Erziehung« unempfindlich sind. Nein, alle sind schuldig, die gutgeheißen und abgenickt, sich mit einem »Tja« oder einem »Aber, aber!« begnügt haben, weil sie sich in dieser Hochkonjunktur einen Posten oder eine Karrieremöglichkeit erhofften … Mit solchen Leuten lässt sich nicht diskutieren, da sie nie auf ein gutes Wort hören; man muss sie mit allen Mitteln zwingen, aus der Welt zu verschwinden, die dadurch blutig und schrecklich, aber nichtsdestoweniger eine neue Welt sein wird, und irgendwo dämmert sie auch schon herauf. Irgendwann werden wir begreifen, dass man nur mit der Waffe und der Handgranate in Händen ein Humanist sein kann.
Und doch wird es nicht so kommen. Ich bin und bleibe ein Humanist ohne Handgranate und Maschinenpistole. Und ich werde zukünftig wie schon in der Vergangenheit wissen, dass der Mensch durch Erziehung nicht zu bessern ist. Ich werde mich selbst erziehen, bis zum Tod, und wissen, dass jede Mühe vergeblich ist.
Wie gut wäre es, wenn man wüsste, dass irgendwo in dieser sich auflösenden Welt gerade ein großer und schöner Roman im Entstehen ist, der nichts als nur ein Roman ist! Etwas wie Krieg und Frieden oder Die Brücke von San Luis Rey ! Wie ärmlich ist doch eine Welt, in der nur noch argumentiert und gehandelt wird, die keine Kraft zu einem großen Roman hat!
Warum soll ein Theaterstück nicht »theatralisch« sein? Ich verstehe diesen Vorwurf nicht. Und warum soll ein Roman nicht episch, ein Gedicht nicht lyrisch sein? Vielleicht ist das alles gar nicht so abwegig.
Ich erwache jede Nacht um drei und liege bis zum Morgen mit offenen Augen im Dunkeln. Man braucht nicht viel Schlaf. Kriegsheimkehrer mit Kopfschussverletzungen haben jahrelang ohne Schlaf gelebt.
November, Nebel und Regen. Aber auch diese Witterung verleiht der Landschaft eine zarte, träumerische Schönheit. Die Welt ist immer makellos.
Jesus war ein Schöpfer: Er schuf ein Werk. Sein Werk besteht aus einer Handvoll Sprüchen, wohlformulierten Wahrheiten. Vor allem revolutionären Wahrheiten, die ein Weltbild gesprengt und durch ein neues ersetzt haben: » Mein Königtum ist nicht von dieser Welt .« Wer daran glaubt, ist ein Christ.
Aber als er vom Kreuz herabblickte , sprach er zu Maria, seiner Mutter: »Frau, was willst du von mir?« Ein düsterer Satz, ob von einem Menschen oder einem Teufel, und der ehrlichste in der ganzen Bibel. Und einer, der, so wie er ist, auch von Dakah, dem Teufel der Perser, stammen könnte.
Ich lese Renans Jesus , zum zweiten oder dritten Mal nach vielen Jahren.
Renan mochte Jesus nicht. Er spricht zärtlich, aber von oben herab, distanziert über ihn. »Er war ein Charmeur …«, schreibt er an einer Stelle über Jesus.
Er glaubte vielleicht an ihn, aber er liebte ihn nicht. Er war geduldig und nachsichtig mit ihm. Er hielt ihn für einen Menschen, den der Glaube der Menschen zu einem Gott gemacht hatte.
Zum ersten Mal seit Wochen wieder eine literarische Neuigkeit in den Zeitungen: Das antisemitische Fachblatt Harc , »Europas beste antisemitische Wochenzeitung«, teilt in einer Anzeige mit, dass sich in ihrer neuen Ausgabe »G. A., der prominente Dichter, mit dem schönsten antisemitischen Gedicht der letzten Jahre zu Wort meldet.«
Ich nehme die Neuigkeit mit Erleichterung zur Kenntnis. Die ungarische Lyrik lebt.
Schlaflose Nächte. Seit zwei Wochen erwache ich jede Nacht gegen drei, liege bis zum Morgengrauen wach im Dunkeln. Was sind das für Schatten, die die Seele des Menschen in solchen Nächten heimsuchen? Ich mustere sie neugierig, mache mich mit ihren grotesken Gestalten vertraut.
Wir wissen sehr wenig über uns selbst; und über das Wesentliche fast nichts.
Ende November, eisiger Regen, Nordwind; bis zum Morgen eitel Sonnenschein. Geschützfeuer über der Donau. Ich gehe bei Kanonendonner und Sonnenschein über einen kahlen Berghang und beginne zu begreifen, dass es zwei Frontlinien gibt: die eine vor mir, mit dem Auge sichtbar, die andere in mir; und Letztere ist fast die Gefährlichere.
Freunde von mir haben Epikurs Rat: Lathe biosas! und Tacitus’ Mahnung: Ridens discede! an die Wand genagelt.
Mir steht leider nur Letzteres frei; ich werde mit einem Lächeln die Welt verlassen, auch wenn ich keine Gelegenheit hatte, im Verborgenen zu leben.
Und dem Fanatismus die Stirn bieten. Die einzige Waffe: unermüdlich argumentieren, logisch antworten, auch wenn dir der
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