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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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ändern! Sollte ich überleben, wird meine Aufgabe darin bestehen, die Schwester und Die Beleidigten zu beenden. Alles andere geht mich nichts an.
    In Budapest. Im Novembernebel passiert das frühmorgendliche Schiff die noch stehenden Pfeiler der eingestürzten Margaretenbrücke.
    Ich habe mich früher oft gegen das Geländer dieser Brücke gelehnt, im Morgengrauen, wenn ich in mein kleines Hotel auf der Insel zurückkehrte. Ich betrachtete von dort die Möwen und das Bild Budas, eingerahmt vom rechten Donauufer.
    Die Stadt ist angeschlagen und heruntergekommen. Ausverkauf, wohin man sieht: Ohne Bezugsschein bekommt man in den Schuhgeschäften lederbesohlte Schuhe, in den Textilgeschäften Stoffe. Die Schaufenster sind leer; in den Auslagen der großen Lebensmittelläden sieht man ein paar Dosen Insektenpulver. Hier und da findet man noch Rüben, ein Bund Salat, Weißkohl. Sonst nichts.
    Ich kehre in einem meiner Stammcafés ein; deutsche Soldaten sind gerade dabei, das Mobiliar zu verpacken. Straßenbahnen schleppen sich dahin, beladen mit Krankenhauseinrichtungen. Der Verkehr ist zum Erliegen gekommen; seitdem mit der Margaretenbrücke die wichtigste Schlagader der Stadt zerrissen worden ist, stehen die Straßenbahnen in Sackgassen herum. Panzer rollen über die Elisabethbrücke, sie kommen aus Soroksár, von der nahe gelegenen Front. In der Ferne Kanonenfeuer. Niemand kümmert sich mehr um die Warnsignale des Luftschutzes.
    In den mit einem gelben Stern markierten Häusern bangen dreihunderttausend Menschen um ihr Leben; halbwüchsige Pfeilkreuzler-Jungen, sechzehn-, siebzehnjährige Lümmel, plündern die gelben Häuser, treiben ihre Bewohner zu den Schleppern und Sammelstellen. Gruppen von vielen Tausend Menschen – Frauen, Kinder, Alte – ziehen in der Novemberkälte stumm einem ungewissen Schicksal entgegen. Plünderungen und Geiselnahmen sind an der Tagesordnung.
    Selbst wenn alle Anschuldigungen, die jemals gegen die Juden vorgebracht wurden, wahr wären, müsste jeder, der als Mensch noch etwas auf sich hält, für sie Partei ergreifen; denn ihr Leid übersteigt jede Vorstellung.
    Diese Presse, deren Exemplare mir in diversen Dorfaborten in die Hände fallen! Dieser Allerlei-Schwachsinn, diese hier und dort aufgeschnappten Neuigkeiten und Informationen, die Redakteure und Leser für Bildung hielten! Sie lasen darüber, warum der Schwanz der Klapperschlange klappert und ob ein Schnupfen durch Liebe zu heilen sei. Und schon hielten sie sich für gebildet.
    Nachts lese ich Emersons Essays . Eine reine, heitere Seele, er will nie tiefer dringen als bis unter die Oberfläche der Moral und der Harmonie. Vor den Abgründen, den Urgewässern, in denen die Ungeheuer leben, scheut er zurück, wechselt das Thema. Was er über die Polarität sagt, sind Gemeinplätze; aber so angenehm wahr!
    Ich bin in Tótfalu, in einer Lebensmittelangelegenheit. Der Handel gelingt; Tagelöhner begleiten mich in die Nähe des Dorfes zurück.
    Sie haben jetzt keine Hemmungen, keine Angst mehr: Schäumend, wortreich ergehen sie sich in Wehklagen und Schimpftiraden über die Deutschen. Endlich haben sie begriffen, was hinter alldem lauerte! Sie recken die Fäuste mit einer letzten, hilflosen Geste … Aber sie sind nicht organisiert.
    Sie kommen auf die Juden zu sprechen, von sich aus. Wie konnte so etwas passieren mit Menschen, die von Müttern geboren sind! …, sagen sie. Dafür werden wir alle büßen müssen, denn die wahren Schuldigen sind schon geflohen!, sagen sie.
    Der Tabaktrafikant im Ort, ein kleiner Prolet, ein Pfeilkreuzler, bemerkt zähneknirschend: »Ich bin gezwungen zu fliehen, weil ich meinen Prinzipien treu bin! Aber die feinen Herren bleiben hier, denn die feinen Herren sind alle Bolschewiki! …«
    Und tatsächlich, die Deutschen, diese Zauberer, haben auch dieses zweite Wunder vollbracht, dass die alten Kapitalisten in Budapest die Ankunft der bolschewistischen Truppen sehnlichst erwarten, damit die endlich das Privateigentum schützen!
    Wetterumschwung. Am Nyerges ist der erste Schnee gefallen. Der Brunnen ist ohne Wasser, ich kann nachts nicht schlafen, lausche dem Artilleriefeuer.
    Ich lese die Tagebücher von Tolstois Sekretär Gussew . Er schildert die letzten Jahre dieses wunderbaren Schriftstellers, als er in seinem Privatleben zu einem jämmerlichen Komödianten verkommen war. Er habe Metschnikow erzählt, er schäme sich für alle seine literarischen Werke, könne sich nicht einmal erinnern, Anna Karenina

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