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Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Tagebücher 01 - Literat und Europäer

Titel: Tagebücher 01 - Literat und Europäer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sándor Márai
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zurückgeblieben, was seinen Körper betrifft. Er schleppt ihn noch immer mit sich herum, hat ständig Kummer und Sorgen mit ihm und kann sich selbst ohne ihn gar nicht vorstellen. Ich denke jetzt gar nicht ans Jenseits, das ich nicht kenne und das mich folglich nichts angeht, sondern ans Diesseits, das ich kenne und innerhalb dessen ich mich allzu sehr um diesen Körper, diese quengelige, verderbliche Materie, kümmern muss. Dabei weiß ich, dass das Ganze vielleicht nur eine schlechte Gewohnheit, eine träge und rückständige, verkrustete Tradition ist. Obwohl ich zweifellos schon viel weiter bin als mein Körper, muss ich mich dennoch ständig mit diesem undankbaren und anspruchsvollen Reisegefährten abgeben, kann mich von ihm nicht befreien, muss ihn füttern und pflegen, und nichtsdestotrotz wird er sich irgendwann gegen mich wenden und mich als Person plump und undankbar vernichten. Es wäre an der Zeit, dass ihn irgendein energischer Mensch in den Ruhestand schickte, in irgendeiner Mottenkiste für verfallene Daseinsformen verstaute.
    Bei den Details immer darauf achten, aus welchen unzweideutig auf das Ganze geschlossen werden kann.
    Das ehrlichste, menschlichste und deshalb vielleicht schönste Wort, das ein Mensch je ausgesprochen hat: »Vielleicht«.
    Pascal hat etwas geahnt, als er hinter den mathematischen Formeln nicht nur Gott, sondern auch den Menschen suchte.
    Die unmittelbare Gefahr ist der Feuersturm des Krieges, die langfristige die Hungersnot. Wenn die Deutschen Budapest zerstören, hört Ungarn als Nation auf zu existieren. Es wird vielleicht in den Gedichten einiger Poeten fortleben … und schon das ist allerhand. Aber ohne Budapest gibt es kein Land.
    Es wird wohl eine Hungersnot geben. Aus Furcht vor der Requirierung werden überall Schweine und Ochsen geschlachtet. Es gibt kein Salz, das Fleisch der geschlachteten Tiere kann nicht konserviert werden.
    Es gibt kein Salz, nicht im Dorf, nicht in Budapest, nirgends. Ein neuer Schrecken: Man muss nicht nur sterben, man muss auch – Gott bewahre! – ohne Salz sterben.
    Ich habe mich über die tatsächliche Bedeutung des Salzes für den menschlichen Organismus informiert. Die Wirklichkeit sieht nicht so düster aus, wie die Hausfrauen glauben. Der Mensch braucht nur zwei Gramm Salz pro Tag, und ein Gramm findet er schon in gewöhnlicher Mischkost. Man kann auch ohne Salz leben; nur ist es geschmacklos und langweilig.
    Ich habe meiner Familie angeboten, die Suppe mit attischem Salz zu würzen, aber ich wurde ausgebuht.
    Vielleicht kommt einmal der Tag, an dem die Priester den Gläubigen in der Kirche nicht mehr Bibelpassagen, sondern mathematische Lehrsätze vorlesen werden.
    Morgens zwischen zwei und vier: die kritische Zeit. Ich erwache schweißgebadet, angsterfüllt.
    Um diese Uhrzeit ereignen sich die meisten Todesfälle, gibt es die meisten Gallenkoliken und Fälle von Angina pectoris; um diese Zeit verändert sich der Weltrhythmus.
    Wir sehen den Krieg inzwischen wie durch eine Lupe, er gewinnt für uns allmählich einen Sinn. Zum Beispiel: Dunaharaszti ist gefallen , Vecsés gehört noch uns. Das ist greifbar, wirklich. Paris ist Geschichte, es geht uns nicht wirklich etwas an …
    Aber Vecsés, Taksony, das sagt ihnen etwas. Sie begreifen jetzt, dass sie dies und jenes vielleicht nicht hätten tun dürfen. Sie begreifen immer nur die unmittelbare, vor ihrer Nase qualmende Wirklichkeit.
    Seit acht Monaten lebe ich vorwiegend auf dem Dorf, verkehre mit Bauern. Aber ich bilde mir nicht ein, die Bauern zu »kennen«. Ich bin kein Dorfforscher. Ich halte generell wenig von Untersuchungen, bei denen jemand ein paar Monate in Pomáz verbringt und dann ein Buch über eine Gesellschaftsschicht schreibt.
    Ich kann nur bescheiden feststellen, dass in der Seele des einfachsten Fabrikarbeiters mehr Großmut und menschliche Solidarität wohnen als in der eines wohlhabenden Bauern.
    Ich muss sechs Kilometer für ein Kilo Brot laufen. Und gehe am Ende leer aus. Auf der Landstraße Hunderte von Wagen inmitten eines unvorstellbaren Chaos. Flüchtlinge aus Kolozsvár, soeben eingetroffen, schleppen sich in Richtung Budapest voran, von Budapest sind zweihundert Wagen in Richtung Somogy unterwegs. Sie hätten alle genauso gut bleiben können, wo sie waren.
    Nervöse Zuckungen auf der Landstraße, am Körper der Städte: Das ist schon das Ende.
    Entweder komme ich in diesem Krieg um oder nicht; ich kann daran oder an meiner eigenen Lage herzlich wenig

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