Tagebücher 1909-1923
müsse, wenn nicht aus eigenem Antrieb, so vom Kapitän gerufen. Warum hatte er auf dem Herweg mit dem Heizer nicht einen genauen Kriegsplan besprochen, statt wie sie es in Wirklichkeit getan hatten heillos unvorbereitet einfach dort einzutreten, wo eine Türe war? Konnte der Heizer überhaupt noch reden, ja und nein sagen, wie es bei dem Kreuzverhör, das allerdings nur im günstigsten Fall bevorstand nötig sein würde.
Er stand da, die Beine auseinandergestellt, die Knie ein wenig gebogen, den Kopf etwas gehoben und die Luft verkehrte durch den offenen Mund als gebe es innen keine Lungen mehr, die sie verarbeiteten
Karl allerdings fühlte sich so kräftig und bei Verstand, wie er es vielleicht zu hause niemals gewesen war. Wenn ihn doch seine Eltern sehen könnten, wie er im fremden Land vor angesehenen Persönlichkeiten das Gute verfocht und wenn er es auch noch nicht zum Siege gebracht hatte, so doch zur letzten Eroberung sich vollkommen bereit stellte. Würden sie ihre Meinung über ihn revidieren? Ihn zwischen sich niedersetzen und loben? Ihm einmal einmal in die ihnen so ergebenen Augen sehn? Unsichere Fragen und ungeeignetester Augenblick sie zu stellen!
"Ich komme, weil ich glaube, daß mich der Heizer irgendwelcher Unredlichkeiten beschuldigt. Ein Mädchen aus der Küche sagte mir, sie hätte ihn auf dem Wege hierher gesehen. Herr Kapitän und sie alle meine Herren, ich bin bereit, jede Beschuldigung an der Hand meiner Schriften, nötigenfalls durch Aussagen unvoreingenommener und unbeeinflußter
-105-
Zeugen, die vor der Türe stehn, zu widerlegen." So sprach Schubal. Das war allerdings die klare Rede eines Mannes und nach der Veränderung in den Mienen der Zuhörer hätte man glauben können, sie hörten zum erstenmal nach langer Zeit wieder menschliche Laute. Sie bemerkten freilich nicht, daß selbst diese schöne Rede Löcher hatte. Warum war das erste sachliche Wort das ihm einfiel "Unredlichkeiten"? Hätte vielleicht die Beschuldigung hier einsetzen müssen, statt bei seinen nationalen Voreingenommenheiten? Ein Mädchen aus der Küche hatte den Heizer auf dem Weg ins Bureau gesehn und Schubal hatte sofort begriffen? War es nicht das
Schuldbewußtsein, das ihm den Verstand schärfte Und Zeugen hatte er gleich mitgebracht und nannte sie noch außerdem unvoreingenommen und unbeeinflußt? Gaunerei nichts als Gaunerei und die Herren duldeten das und anerkannten es noch als richtiges Benehmen? Warum hatte er zweifellos sehr viel Zeit zwischen der Meldung des Küchenmädchens und seiner Ankunft hier verstreichen lassen, doch zu keinem andern Zwecke als damit der Heizer die Herren so ermüde, daß sie allmählich ihre klare Urteilskraft verloren hätten, welche Schubal vor allem zu fürchten hatte? Hatte er der sicher schon lange hinter der Tür gestanden war nicht erst in dem Augenblick geklopft, als er infolge der nebensächlichen Frage jenes Herren hoffen durfte, der Heizer sei erledigt?
Alles war klar und wurde ja auch von Schubal wider Willen so dargeboten, aber den Herren mußte man es anders, noch handgreiflicher sagen. Sie brauchten Aufrüttelung. Also Karl, rasch, nütze jetzt wenigstens die Zeit aus, ehe die Zeugen auftreten und alles überschwemmen.
Eben aber winkte der Kapitän dem Schubal ab, der daraufhin sofort – denn seine Angelegenheit schien für ein Weilchen verschoben worden zu sein – bei seite trat und mit dem Diener, der sich ihm gleich angeschlossen hatte, eine leise Unterhaltung begann, bei der es an Seitenblicken nach dem Heizer und Karl
-106-
sowie an den überzeugtesten Handbewegungen nicht fehlte.
Schubal schien so seine nächste große Rede einzuüben.
"Wollten Sie nicht, den jungen Mann hier etwas fragen, Herr Jakob?" sagte der Kapitän unter allgemeiner Stille zu dem Herrn mit dem Bambusstöckchen.
"Allerdings" sagte dieser mit einer kleinen Neigung für die Aufmerksamkeit dankend. Und fragte dann Karl nochmals:
"Wie heißen Sie eigentlich?"
Karl, welcher glaubte, es sei im Interesse der großen Hauptsache gelegen, wenn dieser Zwischenfall des hartnäckigen Fragers bald erledigt würde, antwortete kurz, ohne wie es seine Gewohnheit war, durch Vorlage des Passes sich vorzustellen, den er erst hätte suchen müssen: "Karl Roßmann. "
"Aber" sagte der mit Jakob angesprochene und trat zuerst fast ungläubig lächelnd zurück. Auch der Kapitän, der Oberkassier, der Schiffsofficier ja sogar der Diener zeigten deutlich ein übermäßiges Erstaunen wegen Karls
Weitere Kostenlose Bücher