Tagebücher der Henker von Paris
bleiche Gesichter, die mir mit den Augen folgten; das Geräusch von Schritten hinter mir versetzte mich in eisigen Schreck; wie das Weib Macbeths blickte ich jeden Augenblick meine Hände an, auf denen ich unauslöschliche Spuren des vergossenen Blutes zu erblicken glaubte.
So irrte ich lange Zeit umher, in dem Wahne, ich sei beobachtet und verfolgt. Dieser Wahn verließ mich erst, als ich die Elysäischen Felder erreichte, wo sich zahlreiche Spaziergänger, von dem schönen Wintertage angelockt, ergingen. Ich bedachte, daß diejenigen, welche vom Anblick der Natur angelockt seien, nicht dieselben Zuschauer der Blutszene, wobei ich eine Rolle gespielt, sein konnten, eine und dieselbe Seele konnte nicht nach so verschiedenartigen Regungen begierig sein.
Ich fühlte mich also ein wenig beruhigter und setzte meinen Weg wie ein trunkener Mensch ohne Zweck bis nach Neuilly fort. Aber ich war nicht allein; denn in mir machte sich die schreckliche Stimme des Gewissens hörbar. Heute, nach so vielen Jahren, vermag ich nicht, alle Gedanken, die sich in meinem Hirn kreuzten, zu nennen, nicht die Gefühle zu schildern, welche bald entmutigend, bald voll Hoffnung sich in meinem Herzen geltend machten.
Es blieb nichts mehr übrig. Ich hatte, wie Cäsar, den Rubikon meines verhängnisvollen Daseins überschritten. In offener Empörung gegen das Menschlichkeitsgefühl war ich aus einem Menschen ein Henker geworden; ich hatte mich freiwillig der öffentlichen Verachtung und dem allgemeinen Abscheu preisgegeben. Ich entsetzte mich über das, was ich getan hatte.
Am Tage meiner ersten Hinrichtung faßte ich aber den ganz bestimmten Entschluß, offenes Zeugnis gegen die Todesstrafe abzulegen, sobald der Augenblick dazu gekommen sein würde.
Das Attentat auf den Herzog von Berry Louvel; Ludwig XVIII.
Wenn es wahr ist, was der Volksspruch behauptet: daß es bei jeder Sache nur auf den ersten Schritt ankomme, so bleibt es doch unbestritten, daß dieser erste Schritt auch der schwerste ist. Nachdem ich den meinigen erst einmal auf den blutigen Weg gelenkt hatte, wurde ich zwar nicht mit meinem kläglichen Amte vertraut, aber wenngleich ich es nur mit Abscheu und Widerwillen ausübte, ich fühlte doch niemals wieder eine so heftige innere Aufregung wie damals bei meiner ersten Hinrichtung, welche ich im vorigen Kapitel schilderte.
Von jenem Augenblick an vertrat oder begleitete ich regelmäßig meinen Vater bei allen Hinrichtungen. Im Laufe desselben Jahres 1819 wurden wir zweimal nach Beauvais entboten, am 13. Juli und am 22. Oktober; das erstemal zur Hinrichtung eines Vatermörders namens Moroy, das andere Mal zu der eines Mörders namens Liebe. Diese beiden Hinrichtungen bieten keinen erwähnenswerten Umstand dar.
Am 13. Mai des folgenden Jahres wurde die Guillotine wieder auf dem Grèveplatze errichtet wegen eines unglücklichen jungen Mannes von zweiundzwanzig Jahren, des Bedienten Charles Normand, welcher an seinem Herrn, dem Hauptmann Sion, einen vorbedachten Mord verübt hatte und von dem Assisenhofe am 8. Mai zum Tode verurteilt worden war. An dem kurzen Zwischenräume zwischen dem Urteilsspruch und der Hinrichtung ersieht man, daß jener Unglückliche keine Appellation eingelegt hatte; er zeigte in der Tat in den letzten Augenblicken eine Gleichgültigkeit, welche kundgab, daß er sich in den Tod ergeben hatte.
An diesem Tage befanden sich wenige Leute auf dem Grèveplatz; ganz Frankreich beschäftigte sich mit der Lösung eines anderen Dramas, welches die öffentliche Meinung viel lebhafter in Anspruch nahm. Genau drei Tage früher fiel einer der Söhne Frankreichs, der einzige, welcher die Dynastie des älteren Zweiges der Bourbons fortsetzen konnte, der Herzog von Berry, als er die Oper verließ, unter dem Messer eines Mörders. Dieser Mann, den man in dem Augenblick, als er nach dem verübten Attentat die Flucht ergreifen wollte, verhaftet hatte, erklärte, er heiße Louis Pierre Louvel, sei sechsunddreißig Jahre alt, aus Versailles und seines Handwerks ein Sattler, über die Beweggründe befragt, die ihn zu solcher Tat getrieben, antwortete er, er habe den Plan schon seit Jahren in sich gehegt, und nur die Gelegenheit zur Ausführung hätte ihm bisher gefehlt.
Der unglückliche Prinz, welcher um elf Uhr abends erstochen worden war, lebte nur noch eine Nacht im Todeskampf; trotz der geschickten und treuen Pflege, welche ihm die herbeigeeilten Doktoren Bougon und Dupuytren widmeten, hauchte er um halb sieben Uhr seine
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