Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
rauche meine Cigarre und nehme es alles nicht mehr ernst» (was ja nur Attitude ist, in Wahrheit saß ich verletzt-griesgrämig-alleine, mir des «Abstellgleises» bewußt, auf das man mich rangiert hat …) sprach die Witwe: «Ach, eine Cigarre – Marcuse hat auch immer Cigarren geraucht.»
12. März
Ganzen Tag Tucholsky-Arbeit.
Nach einer Stunde: mein Auto aufgebrochen, am hellerlichten Tage – trotz Alarmanlage! –, die Scheibe zertrümmert, Radio geklaut. Der Polizist, der die Anzeige aufnahm, hieß – Tucholsky –!!!
Hotel Kempinski, Berlin (puffähnliche Suite, mit «Stil»möbeln und Schabracken), den 13. März
Beginne, wie passend, die seit langem mit so großer Spannung erwartete Lektüre von Mary Tucholskys Briefen an ihn, Kurt Tucholsky. Leer. Perplex, wie ohne innere Spannung, «höflich», aber fern der Ton ist. Große Enttäuschung. Außer ihr Anstand: «Ich will kein Geld.»
Abends Bondys neue Botho-Strauß-Inscenierung in der Schaubühne. Ein herrlich angerichtetes NICHTS. Wunderbare Schauspielkunst – aber eigentlich könnten die auch im Stummfilm spielen; es sind Wörter, keine Worte. Diese Autoren haben nur mehr Appetit, keinen Hunger. So reichen sie ihrem Publikum Appetithäppchen.
Hinterher bei Fofi, wo prompt Bondy mit allen seinen Stars auftauchte. Lustig-befremdlicher Abend: Bondy witzig-jüdisch-schnell («Ich bin leider nicht lesbisch» über das verschwulte Tanger), politisch hell-wach. Liebgard Schwarz konnte keinen Satz zu Ende sprechen, geschweige denn zu Ende denken. So eine herrlich-manieristische Figur auf der Bühne – sind die Lampen aus und die Schminke ab, sitzt da ein stotterndes Vögelchen.
21. März
«Mein Mund gehört Kunibert» – solche ersichtlich erlogenen, aber ergötzlichen Geschichten erzählt am laufenden Band Platschek, mit dem ich vorgestern essen war – das habe ihm ein «Weib beim Vögeln» gesagt, weil sie nicht küssen wollte. Als ich ihn tags zuvor wegen der Verabredung anrief und eine Greisin abhob, ich mich entschuldigte, ob seine Mutter zu Besuch sei, kam nur ein Stöhnen – – – als sei er eben mitten beim Vögeln; es war die Haushälterin.
Die nächsten Wochen werden wohl sehr im «Zeichen Brasch» stehen, der in meiner Gästewohnung wohnt bzw. nicht wohnt: erst das Flugzeug versäumt, dann Verabredung, dann Schlüssel im Mühlenkamper Fährhaus holen (wo ich eben mit Platschek saß), dort 3 Stunden zu spät, kaum mich, kaum den – sehr wohlerzogenen, altmodischen – Platschek begrüßend, mit «Kati» stumm am Nebentisch Batterien Bier bestellend, keineswegs hier einziehend, nächsten Tag Anruf, er habe den Schlüssel abgebrochen, gestern, als gerade die Filmtruppe hier eintrudelte, Anruf «Kati», wo Brasch sei – – – der sich bei mir weder aufhielt noch meldete, obwohl ich ihn zu dem Abend mit Flimm eingeladen hatte. Gut, daß ich morgen nach Sylt abhaue – inzwischen wird er wohl ausgezogen sein.
Mein «Osterei» ist ein herrlicher Marmorkopf aus dem syrisch-römischen Raum, ein Frauenportrait von einem Grab, leise lächelnd, wie über den Tod triumphierend, 2000 Jahre alt – soll nach Sylt. Hat mir die Schnecke geschenkt – ich habe ihr dafür ein Badezimmer (d. h. Geld dafür) geschenkt.
Kampen, den 26. März
Regnerischer Ostersonntag (nach 2 sehr schönen, eiskalten, aber sonnigen Sturm-Nordsee-Tagen): zur Vorbereitung meiner kleinen Ansprache anläßlich Kantorowicz’ 10. Todestag Herumblättern in seinen Tagebüchern, in Briefen an ihn (die zu meinem Erstaunen wenig ergiebig sind; abgesehen von einem großen Heinrich Manns und einem schönen Hermann Hesses nichts Bedeutendes – tatsächlich sind die Briefe AN MICH, so unappetitlich-selbstisch sich das anhört, die ich gerade für den Band zu MEINEM 60. heraussuche, inhaltsvoller …).
Aber diese Kanto-Lektüre ist AUCH eine Fahrt in die eigene Vergangenheit; nicht erst seit Ingrids Ankunft in Hamburg nach der von mir organisierten Flucht aus der DDR mit falschem Schweizer Paß, extra eingenähten Büstenhalter- und Schlüpferetiketten (mußte ja alles «echt schweizerisch» sein), sondern auch an Kanto: seine ersten Vorlesungen, in denen er – für den jungen Mann unerhört – von seinen Freundschaften mit Hemingway oder Heinrich Mann erzählte; sein Auto – ganz unglaublich, daß jemand damals einen EIGENEN Wagen fuhr; unsere Silvesterfeier bei Arendts mit Blochs und Seitzens, wo Kanto als Schieber mit Mütze und rotem Halstuch sehr «à la Marseille»
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