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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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ich habe garnichts anzuziehen, er hat gesagt, ich soll im turtle-neck kommen – aber ich will ja nicht mit ihm über Mode sprechen, sondern was Philosophisches.»
    8. August
    Am Mittwochnachmittag Besuch einer ganz netten, nicht unintelligenten Fernsehtante, die einen TVfilm über die politischen Haftanstalten der Ex-DDR und die kirchliche Betreuung dort macht – also über «meinen» Pfaffen Mund. Langes Gespräch über dessen Rolle, Vita, intellektuelle Biographie, wobei so einem Vertreter der jüngeren Generation viele Stichworte Leerformeln sind: religiöser Sozialismus, Ragaz, Rackwitz, kirchlicher Widerstand – alles Hekuba. Schwer, die vielfach zwielichtige und dann doch wieder integere Figur des Pfaffen zu verdeutlichen: ZK und Pfarrer, Oberst der Volkspolizei und Vertrauter der Kirchenleitung, SEDmitglied und Nicht-mehr-Marxist. Niemand kann ich allein den geradezu anekdotisch anmutenden WAHREN Zusammenhang erzählen und erläutern, wie es WIRKLICH zu dieser ganzen Anstaltsseelsorge kam: daß nämlich wir beiden schwulen Lover, ich noch mit Westberliner Ausweispapieren und er mit ZKausweis und ZKauto (die hatten eigene Nummernschilder, damit sie gleich erkennbar waren und nie kontrolliert wurden), in eine SEDgärtnerei am Rande Berlins fuhren, um Geranien für den Wintergarten des neu zu beziehenden Hauses in Ostberlin (also 1949, mitten im Umzug dorthin) zu kaufen; es gab ja keine Blumen im Osten. Aber ein überbeflissener Volkspolizist kontrollierte doch die Papiere, stutzte über meinen Westausweis in einem ZKauto, vor Aufregung fiel Jochen Westgeld aus dem ZKausweis – und schon waren wir verhaftet. Der kleine Polizist dachte, er habe DEN Agentenfang seines Lebens gemacht, und erst nach endlosen Telefonaten mit Berlin (wir waren an der Grenze zur Zone) durften wir, mit einem Volkspolizeioffizier im Wagen, zurück – und zwar direkt ins ZK, wo wir von einem Obermotz im Allerheiligsten «verhört» wurden, der aus allen Wolken fiel: «Wir haben einen GENOSSEN PFARRER IM ZK? Das wußte ich ja garnicht, und das ist ja unerhört – und unerhört günstig, ich habe nämlich gerade hochkomplizierte Verhandlungen mit Bischof Dibelius wegen …» Und damit begann das Ganze. Geschichte ist AUCH SO: Wobei – Unterabteilung Geschichte – Frauen immer wieder merkwürdige Wesen sind: Gitta, nun seit Jahren ganz Witwe, hat natürlich vollkommen verdrängt, nicht nur, was ihr ihr schwuler Pastorengatte ein Leben lang angetan hat (immerhin wollte sie ihn deswegen mal anzeigen und sich ein andermal scheiden lassen, was das Ende seiner theologischen Karriere gewesen wäre, und immerhin weigerte sie sich noch während meines Studiums – bevor ich auszog –, mir Brote fürs Mittagessen in der Uni mitzugeben) – sie hat sich auch aus ihm einen Heiligen gebaut, den sie «besuchen» geht am Grabe («Das muß ich Jochen erzählen») und der sein Leben NUR dem lieben Gott und den Gefangenen geweiht hat. Wie eine wütende Löwin fährt sie auf, wenn (wie jetzt für diesen Film) ein zweiter Pfarrer auftaucht und ebenfalls Anstaltsdienst gemacht haben will: «Jochen war der erste und der einzige, ach was, dieser junge Mann damals, der war groß und blond und hübsch …», erklärt sie mit weiblicher Logik. Jung und blond – das kann ja nix sein und der kann nicht und darf nicht …; als sei Jochen nicht auch mal jung und schwarz gewesen. «Was verstehen die alle davon …»: Mit dem Satz wird alles abgewehrt, was die Heikligkeit dieser Mission und Position eines SED/Polizeioberst/Pfarrers auch nur andeutet – mit DEM Satz, mit dem Helmut Schmidt und seine Generation jegliche Erörterung über den Dienst in der Hitlerarmee abtun. Eine historisch wie logisch wie moralisch unaufrichtige Position. Interessant ist doch gerade, daß jemand SO war, alles in einem, sein 15jähriges Mündel – also mich – verführte und, noch dazu nachts, durch die Schwulenparks streunte und sich 20-Minuten-Pick-ups holte oder auch mal längere Affärchen hatte in irgendwelchen Studentenwohnungen – UND diesen ungeheuren Dienst verrichtete UND wirklich religiös war UND sich tatsächlich bis zur TBerkrankung aufgeopfert hat. SO ist das Leben.
    Donnerstag nach Wien zu Gespräch mit Kohout, was wegen seiner mittelmäßigen Intelligenz mittelmäßig wurde (wenn auch in einer keineswegs mittelmäßigen, im Gegenteil hocheleganten Wohnung im ZENTRUM Wiens mit Blick auf Stephansdom). Er kann nur räsonieren, nicht diskutieren, sieht die

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