Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
ungesund braun wie aufgeschminkt, als habe er AIDS oder Krebs – und albernd lobend rezensierend in die Diskussion eingreifend, dabei den «vorzüglichen Klaus-Mann-Essay» von Raddatz hervorhebend, den dieser nur leider nie geschrieben hat, und die Tatsache, daß Raddatz vor allem als Herausgeber von Rowohlts Literaturmagazin so große Meriten habe – was der nur leider nie herausgegeben hat).
Kampen, den 15. September (meines Vaters Todestag)
In seiner Verdruß- und Sinnlosigkeitstheorie ist Pessoa keine «gute» Lektüre für mich; auch seine Psycho-Pathologie mir zu nahe. Schön-schrecklich z. B. seine Herbst«bestimmmung»: «… noch herrscht nicht jene unbestimmbare Angst, die unsere Wahrnehmung der sterbenden Natur begleitet, weil wir von ihr auf unser eigenes Ende schließen. Es war wie eine Erschöpfung nach der Anstrengung, ein vager Schlaf, der auf die letzten Gebärden des Handelns folgte. Ach, es sind Abende von einer schmerzlichen Gleichgültigkeit, daß der Herbst, bevor er noch in den Dingen anhebt, in uns anhebt. Jeder Herbst, der ins Land steht, steht dem letzten Herbst näher, den wir erleben werden … Der Herbst erinnert seinem Wesen nach an das Vergehen aller Dinge … es liegt eine Spur vorweggenommener Traurigkeit, ein für die Reise gekleidetes Leid in einem Gefühl, in dem wir vage aufmerksam auf die farbige Verschwommenheit der Dinge, auf den veränderten Ton des Windes, auf die ältere Stille, die sich, wenn die Nacht einbricht, durch das Weltall hin ausgebreitet. Der Herbst … die vorweggenommene Erschöpfung aller Gebärden, die vorweggenommene Enttäuschung aller Träume.»
Besser könnte ich es nicht sagen, warum mir der September hier immer so wichtig, so dringlich und so tief ist, der Monat, in dem der Wind tatsächlich ein anderes Geräusch macht, eine andere Tonalität hat und in dem – wieso eigentlich – das Silber der Silberpappeln mehr zu sehen ist, als würde der Wind im Herbst die Blätter anders wenden. Mehr und mehr liege ich nachmittags auf meiner Terrasse und unterbreche die jeweilige Lektüre und sinne den ziehenden Wolken, den segelnden und kreisenden Möwen nach und spüre, wie sie mein Leben mit davon-ziehen, Häutchen für Häutchen. Worüber ich nicht einmal traurig bin, denn ich habe ja keine Angst vor dem Tode, nur vorm Sterben.
Kampen, den 26. September
Letzter Tag in Kampen – von so strahlender Herbstschönheit, daß die Angstmelodie summt, es könnte überhaupt mein letzter Tag hier sein. Es waren 5 wunderbare Wochen, mit meist schönem Wetter und bei interessanter, aber nicht erdrückender Arbeit.
Gelegentlich komische Besuche wie der von Inge Feltrinelli. Sie rollte sich wie eine genießerische Katze auf dem Sofa zusammen, als ich ankündigte, von dem «fürchterlichen» Fest für Wapnewski zu erzählen. «Sprich, erzähle alles, himmlisch, war es wirklich so schlimm?» – und dann genoß sie es mehr als den Champagner. Beste Freundinnen.
Parkhotel, Frankfurt, den 30. September
Die Messe knarzt und raschelt wie altes Laub, das ich auf einem Friedhof zusammenharke: alte Lemuren, alte Literatur, alte hasbeens .
Das am schrecklichsten im Winde schaukelnde Blatt die (ehemals) schöne Lady Jane, die immer nur im Sinne hatte, reich zu sein – und nun (1 Jahr nach Ledigs Tod) trotz all ihrer Millionen und ihres Châteaus in einer Trinkerheilanstalt liegt.
Richtig interessant nur der «Rabe» mit z. B. meinen und Rühmkorfs (ganz exzellenten) Tagebuch-Exzerpten. Obwohl: Daß wir uns nun immer alle noch nächtens oder spätestens am nächsten Morgen per Tagebuch aufspießen wie Schmetterlinge und unter dem Glas-Sturz bösartig-lauernder Eitelkeit fixieren – hat ja auch was Komisches. Wie verhalten sich Leute – etwa Rühmi und ich demnächst bei Grass’ 65. – zueinander, die wissen, sie werden sich gegenseitig bannen? Ich fürchte, zum Schluß leben wir nicht mehr wirklich (jedenfalls nicht «normal»), sondern als Träger und Spieler einer Rolle, die wir so oder anders fixiert sehen wollen.
In gewisser Weise war meine jahrzehntelange Scheu, fast Keuschheit gegenüber diesem Voyeurismus anständiger. Schade dennoch – weil Hunderte von skurrilsten Portraits ungeschrieben blieben. Die Nacht der sinnlosen Verliebtheit der Bachmann in den schwulen Baldwin, der mich anflehte, mit ihm in eine schwule Bar vor ihr zu flüchten (sie liebte stets Männer – Thomas Bernhard, Henze –, die Frauen nicht liebten); die Elsner mit ihren zahllosen
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