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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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der zugegen zu sein eigentlich keinen Sinn machte, sowenig wie die Gegenwart der 2 übrigen Gäste, des übermüdet-muffeligen Manfred Bissinger und des SPD-hölzernen Duve, der jedes Gespräch tötet mit seinem «Zu dem Thema haben wir gerade eine Kommission gegründet» und jeden, Gott behüte, frivolen Witz erstickt in seinem: «Aber die Mieterhöhungen der letzten 6 Monate …» Ansonsten waren SÄMTLICHE Kinder – das sind 4 aus der 1. Ehe, 2 von Ute und 2 uneheliche – da mit ihren Frauen/Männern, Freunden/Freundinnen UND ihren Kindern, gelegentlich Zwillingen. Eine unübersehbare Familien«bande», in der sich Grass selber gelegentlich nicht zurechtfand: «Die Blonde dahinten ist die Tochter von …, nein, die Schwiegertochter …» Es hatte zugleich etwas Rührendes und Archaisches und Chaotisches, ungepflegt sowieso (mit einem allerdings köstlichen, sehr reichlichen Buffet). Grass, der noch immer stolz ist auf seine Fähigkeit, Kopfstand zu machen – «Solange ich das kann, kann ich auch schreiben» (was ja wie ein leiser Selbstzweifel klingt) –, ganz der Patriarch, welch selbe Rolle ihm sehr gefällt und die er auch hemmungslos aus«nutzt»: etwa, indem er eine «Ermahnungsrede» an die junge Generation hielt, der er politisch die Leviten las; eine Mischung aus zärtlicher Familienvater und Stammtischstratege, der sich unerbittlich ernst nimmt und – das war besonders erstaunlich – sein eigenes Licht gewissermaßen unter den Scheffel stellt: Es wurde NUR politisiert, mit keinem Wort «erschien» der Künstler (bis ich auf DEN eine kleine Rede hielt). Der er doch schließlich in erster Linie ist.
    Vielleicht werde ich DAS in den Mittelpunkt meiner Laudatio im Dezember stellen: das Humanum in Schreiben und Handeln, das ihn wohl auch so tief in die Politik ge-(ver-)führt hat. Obwohl mich das ungepflegte Ambiente und die wirre Inscenierung irritierten, kann ich nicht leugnen, daß mich seine sehr große, unverkrustete und unverzieratete Menschlichkeit auch sehr anrührt.
    24. Oktober
    That was the week that was: STASI-Unterlagen eingesehen, Grass-Geburtstag in Lübeck und Rheinsberg-«Hochzeitsreise» zum 30. Jubiläum der Stützner – die so lange für mich arbeitet.
    Am aufregendsten die Reise in die eigene Vergangenheit, das Betrachten eines zurückgespulten Films: Gauck hatte mir, weil’s da schneller geht, meine Stasi-Akten nach Schwerin «überstellt», wo ich – in einem seinerseits Stasi-ähnlichen Verhör-(respektive Schul-)Zimmerchen bewacht, weil man bestimmte Teile nicht einsehen darf, wie beim Abitur – auf einem wackligen Stühlchen sitzend an einem wackligen Tischchen («Wollen Sie eine Tasse Kaffee – kostet fuffzig Fenniche») also in mein früheres Leben einsteigen durfte.
    Der Eindruck des Komischen, gar Hilflosen (der Stasi der 50er Jahre) überwog. Sie beschreiben die wechselnde Haarfarbe von «einer jungen Dame, die dort gelegentlich übernachtet», haben aber keinen Schimmer von meinem homosexuellen Zweitleben; sie lauern meinem armen Helenchen – der Haushälterin – auf, fotografieren sie von einem Nachbarbalkon, wenn sie die Mülleimer leert, und beschreiben ihr weißes Haar und ihr Kapott-Hütchen – aber können nicht herausbekommen, wo sie wohnt (als könne man ihr nicht nachfahren); sie engagieren die übliche Nachbarin, wissen aber nicht, wie sie Zutritt zur Wohnung kriegen sollen, um eine Wanze anzubringen (mein Verlagsbüro hatten sie verwanzt, aber technisch so schlecht, daß immer nur die Hälfte zu verstehen war); sie überwachen mein Telefon, notieren aber bei einem Telefonat mit Hans Mayer: «Ein Professor Meier, unbekannt» (müßte man ihm zusenden!!) und bei mehreren mit Erich Arendt, immerhin Nationalpreisträger: «Identität feststellen» oder fragen sich verzweifelt, wer ein Herr Herder sein könne (weil mein Freund Schneider sich während meiner Dissertation über Herder so nannte); sie halten, was ja SEHR geheim ist, die Personalausweisnummern von Pfaffen, Pfäffin und Tochter fest und seine Autonummer, können ihn aber – «Herr Ende 30, elegant, spitze Schuhe, Geheimratsecken, Sonnenbrille» – nicht identifizieren, wenn er mit eben diesem Auto bei mir vorfährt. Das Ganze eine Mischung aus Bedrohlichkeit, Dilettantismus und Wichtigtuerei à la «Herr Lehrer, ich weiß was». Selbst die Überraschung, daß «IM Kant» schon früh auftaucht, hat diesen Charakter der sich anbiedernden Petzerei – weil ja auch anderes, als daß ich eigene

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