Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
Erschöpfung und Desinteresse – weswegen man nicht mal über ihren Verlag, ein Programm, literarische Ziele mit ihr sprechen kann. Lieber schenkt sie mir einen Marcel-Breuer-Schreibtisch, als auch nur mit mir über MEINE literarischen Pläne ernsthaft zu sprechen.
25. November
In einem Gay-Sex-Kino: totales Debakel. Diese feucht-dunklen Kellerräume, «hergerichtet» mit fleckigem Sessel, Porno-Video und Küchenpapierrolle, waren für mich eine Hinrichtungsstätte. Ich graulte mich ohne jeden Kitzel. Meine Phantasie war mehr besetzt von den Ausländer-Greueln, die täglich durch die Nachrichten geistern (und mich an Emigration denken lassen), als von irgendeiner Geilheit. Als mich ein hünenhafter Blonder ansprach, ob ich Deutscher oder Ausländer sei, ich sähe so undeutsch aus, hatte ich eher Angst, ein Messer in den Bauch zu kriegen als einen Schwanz in die Hand. Es war dann, wie sich herausstellte, ein sehr netter Däne, der «auf mich abfuhr», wie er sagte. Nur ich umgekehrt nicht – mich entschuldigend, flüchtete ich ans Tages-, will sagen Nachtlicht. Man muß ohne Nerven, ohne Ängste, von barocker Sinnenfreude (egal wie und wo) sein, um derlei genießen zu können.
5. Dezember
Das lächelnd-dumme Chamäleon Robert Wilson. Kontaktfreudig wie ein Fisch. Komme über ein «How are you?» fast nie mit ihm hinaus. Traf ihn gestern nacht auf einer (ansonsten langweiligen) mondänen Veranstaltung, einem «Après-Concert-Cocktail» für Christoph Eschenbach. Er ist der Fisch, aber – verqueres Bild – WIR sind alle im Aquarium: So sieht er offenbar Menschen – ganz nah und ganz fern zugleich; jedenfalls durch Glas. Sehr ähnlich übrigens dem Anämiker Peter Handke, der einen ansieht wie ein ekelhaftes Insekt – man schämt sich, geboren zu sein, unter prüfend-erstaunt--abschätzigem Blick. Muß gestern Wilson beleidigt haben, als ich sagte, daß Sprache ihn wohl doch nicht interessiere (oder er fand mich gottserbärmlich dumm) – er glitt gekränkt lächelnd davon, mitten im Satz. Doch tatsächlich IST Sprache für ihn doch eine Art Schall-Dekor, wie alles bei ihm/für ihn Dekor ist – jedenfalls nicht Verständigungsmittel.
12. Dezember
Mein Leben läuft rückwärts, ein Biographie-Film, der zurückgespult wird: «FJR mit Autoren», mit dem jugendlichen Enzensberger, dem jünglingshaften Fichte oder dem energisch dozierenden Verräter Mayer, aber auch einer Diva namens Knef oder dem «Pferd» Mildred Scheel; nun das Abschlußtableau «Volk und Welt»: «Mein alter Verlag», in Walter Czolleks Zimmer, in dem ich verhört wurde und in dem Paul Merker mir BEIM Verhör einen Apfel anbot und in dem Czollek mir sagte: «Wenn ich erfahre, daß du abhauen willst, lasse ich dich vorher verhaften» (ein Satz übrigens, der interessanterweise in den Stasi-Akten festgehalten ist) – in DEM Zimmer nun vorgestern die entscheidende Sitzung, mit der der Verlag gerettet wurde, «freigestellt» von der Treuhand, von Schulden entlastet und mit Startkapital von 3 Millionen honorig ausgestattet. Die Pointe: 65 % der Anteile hält nun ein gegründeter Verein des Autorenförderkreises (Grass, Hochhuth, Muschg u. a.), und Präsident des Vereins ist wer? FJR. Ich bin also «Mehrheitsanteils»- na, wohl nicht Eigner, aber «Verfüger» meines alten Verlages!!!
Wobei mir in meiner Sentimentalität eine schöne Biographie-Lüge unterlief: Obwohl eilig, bestand ich «vor mir» darauf, vom U-Bahnhof «Stadtmitte» mit der U-Bahn nach «Tempelhof» (bizarrerweise: zum Propellerflugzeug wie weiland …) zu fahren, weil ich meinen Fluchtweg nach-fahren wollte. In Wahrheit war ich ja von Adlershof mit dem Taxi zum Flugplatz Tempelhof «geflüchtet», was damals mit dem Presseausweis ging.
16. Dezember
Gestern abend «Großveranstaltung» im überfüllten Literaturhaus, wo Kersten jenen bereits inkriminierten Tagebuch-«Raben» vorstellte, in dem auch ein paar Absätze aus meinem (diesem) Tagebuch publiziert sind, neben brillanten von Rühmkorf und eher mäklig-gebildet-uninteressanten von Reemtsma und ferklig-eindimensionalen von Fichte, schwanzfixiert.
Insofern barocker Vorgang, nun hier im Tagebuch die Veröffentlichung von Tagebuchpassagen zu kommentieren – wie gegenüberhängende Spiegel, deren Optik respektive Perspektive sich ins Unendliche bricht. Reizvoll und sinnlos – wie ja jedes Spiel.
Ist Tagebuch «Spiel»? Kam mir doch selber befremdlich vor, wie ich das nun vor großem Publikum las, und es kam mir noch
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