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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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«Woher wissen Sie das denn?» blieb unbeantwortet. Zwar stehen Schlangen vor jedem Museum der Welt und sind keine Karten für Bayreuth, Salzburg oder auch nur die Hamburger Oper zu bekommen – aber die pensionsberechtigten Fernseh-Bonzen wissen genau, was «die Leute» wollen, und auch, daß es Kultur eben nicht sei. Sie haben Brieftaschen im Kopf statt Gehirne.
    Costa Rica, den 20. Dezember
    Vorläufig total verunglückte Reise nach Costa Rica, wo wir 2 volle Tage ergebnislos nach dem verschwundenen Gepäck meiner Schwester fahndeten; stündlich wurden ihre Jeans, Badeanzüge und Seidentücher teurer und unersetzlicher, ihre Laune mieser, meine auch – und meine Brieftasche (wegen Neuerwerbungen) leerer.
    Costa Rica, den 25. Dezember
    Schauerliche Weihnachtstage, vor allem dank der gänzlichen Unerträglichkeit meiner Schwester; zu fürchten, daß sie tatsächlich nicht mehr klar im Kopf. Es rinnt ein unentwegter Kauderwelsch-Strom aus ihrem Mund, quasi Joyce pur: Ohne Punkt und Komma quirlt hervor, was das Spatzenhirn gerade produziert: Tomatenpreise, «Wo ist mein gelbes T-Shirt?», «Wie macht man die Kaffeekanne aus?», «Daniel verspielt sein Geld», «Ich habe Schorf am Kopf», «Was willst du, daß ich heute abend anziehe», «Dieser Joghurt schmeckt mir nicht», «Marc sammelt präkolumbianische Kunst». Ein vergreistes Kind, das sich nachts aufs Sofa im Salon legt und schläft oder vor der Warnung «Die Flut kommt» nur faul grunzend im Sand liegenbleibt – um zu heulen und zu schreien, wenn die nächste Welle Shorts und Sandalen und Sonnenöl wegschwemmt. Der Tag ist eine ununterbrochene Klage-Litanei und der Tageslauf ohne jegliche innere Uhr – wann man aufsteht, duscht, sich umzieht: alles Naturkatastrophen. Das gestrige «festliche Abendessen» sah so aus, daß ich von der Tischdekoration bis zum Obstsalat alles machen durfte und der Fisch – das einzige, was man ihr überlassen hatte – roh auf den Tisch kam. Mitten in die Tonbandmusik wurde geplärrt: «Peters Auto ist wirklich schön.» oder «Ich weiß nicht, wohin ich meinen Führerschein gelegt habe.»
    Costa Rica, den 27. Dezember
    Die Reise immer verkorkster.
    Wie eine Monstranz, einen «Gottseibeiuns» gegen den Beelzebub, trage ich meinen Tolstoi-Tagebuch-Band vor mir her (nutzlos); dabei enttäuscht bis entsetzt über die kitschige Dummheit und tränendicke Selbstgenügsamkeit; Eintragungen à la «Heute gut gedacht» oder «Heute seelisch gut gewesen» zuhauf, nur im Alter gelegentlich rührend: «Am Vormittag gab es etwas Schönes aufzuschreiben. Vergessen» oder «Habe sehr gute Gedanken, aber alles ist ohne Zusammenhang, verworren»; «3. April. Was ich am 1. April getan habe, kann ich mich nicht mehr erinnern». Aber sonst sehr viel frömmelnder Seelenstuß. Mein Jahrzehnte zurückliegender Eindruck – den man sich nicht zu formulieren wagt –, daß «Krieg und Frieden» ein schlechtes, zusammenzementiertes und total un-psychologisch gebautes Buch ist, wird zumindest durch diese verheerend schlechte, billig durch «und dann nahm er einen Schluck Tee» zusammengeleimte Jeremiade «Kreutzersonate» gestützt. Ein einfältiger Redeschwall.
    Costa Rica, den 31. Dezember
    Am letzten Tag des Jahres eine bittere Bilanz. Bedrückend auch meine «ästhetische Griesgrämigkeit»: Eigentlich gefällt mir nichts von dem, was ich lese. Nach dem frömmelnden Poltergeist Tolstoi nun dieser hochgepriesene Ungar Nádas: intelligent, aber ohne den Atem des Epischen, ein Stagionekunststück, in dem zwischen ferkelnder Sau, schwulem Sex, Frauenfick und Rakosi-Schäferhunden Kunstfertigkeit vorgeführt wird, aber nicht Kunst.
    Oder irre ich mich aus Verdrossenheit?

1993
    Casa Turire Hotel, Costa Rica, den 5. Januar
    Das neue Jahr beginnt schlimmer, als das alte endete – in einem Mischmasch aus Banalität, Nervosität und zu hohen Rechnungen. Ob meine Voraus-Ängste diesmal recht behalten, die noch bestätigt durch stundenlanges Neben-uns-Fahren eines Leichenwagens und dem Ende einer Irrfahrt auf einem Friedhof?
    Der Sylvester-Abend läppisch verplappert (meine faule Schwester überließ vom Tisch-Decken bis zum Dessert alle Arbeit den Gastgebern; sie ließ sich vier Tage lang wechselseitig von denen, Gerd oder mir einladen, ohne auch nur 1 Drink zu spendieren …); Gerd flog morgens ab, ich kam mir traurig und allein-gelassen vor; seit Tagen quirlen wir im zerbeulten Toyota durch dies uninteressante, kulturlose Land und haben die Wahl zwischen

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