Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
Gedanken hatte, nicht zu berichten war. Sah in Kant immer einen schlechten Schriftsteller und Gegner, mit dem zu diskutieren ich sogar bereit war, aber hätte ihn trotz aller Gerüchte nie für einen Spitzel gehalten. Kleines Ferkel. Schreibt allen Ernstes auf, was ich auf einem Weihnachtsbücherbasar (großen Quatsch übrigens) gesagt habe oder was für Cigaretten ich rauche («aus England eingeflogen»: wie Klein Moritz sich die große Welt vorstellt).
Erleichternd, daß KEINER meiner Freunde je ein Wort über mich weitergeleitet hat, selbst der «Genosse Czollek» steht eigentlich wie eine Eins da in seinem Bemühen, meine «überragende Intelligenz und hohen Arbeitseinsatz, ohne den der Verlag garnicht arbeitsfähig wäre» in den Vordergrund zu stellen, meinen «Antifaschismus» lobt und meine Nicht-Beteiligung an gesellschaftlicher Arbeit meiner kompromißlosen Jugendlichkeit zuschreibt (wobei interessant, daß in dieser kommunistischen Macho-Gesellschaft Frauen keine Rolle mehr spielen; die Cheflektorin Dreifuß-Spanierman wird als «alte Frau» abgetan, die – wie der ganze Verlag – total unter meinem Einfluß stehe; und eine andere «Dame» – ich könnte nicht mehr herausfinden, wer das war, und es interessiert mich auch nicht –, die im Verlag auf mich angesetzt wird, ermuntert man, ein Verhältnis mit mir anzufangen, wobei ihr Einwand, sie sei ja verheiratet, weggewischt wird, man aber wie sie hilf- und ratlos ist, wie sie das anfangen soll, denn «er ist so verschlossen und zurückhaltend, lebt nur in seiner Arbeit, kommt morgens, macht die Tür hinter sich zu und geht abends als letzter»).
Hochamüsant das «Charakterbild» – als seien sie Psychiater –, zu dem sich diese analphabetischen Oberleutnants bemüßigt fühlen: begabt, intelligent, in der Arbeit unschlagbar und unersetzbar (?!), arrogant, eitel, an Geld interessiert, unbeliebt (aber andererseits wieder «Vorbild für sämtliche jungen Lektoren im Verlag», die er gelegentlich zu «ausschweifenden Abenden» nach Westberlin einlädt). Erschreckend im Grunde nur das wörtliche, von ihm signierte Protokoll der Harich-Vernehmung, in dem er mich unsinnig und unberechtigt schwer belastet – während ich schlau lüge und ihn in MEINEM Vernehmungsprotokoll herauszupauken suche als einen lediglich Kultur-Nörgler. Der Mann mit dem Mundgeruch.
Was für eine graue, kleinkarierte, mies-denunziatorische Welt, die ungelüftet wirkt und nach nicht-gewechselten Unterhosen riecht. War’s richtig, daß ich SO viel Lebensenergie, ja: Liebe da hineingesteckt habe, so unendlich viel Mühe, Arbeit, Grips?
Am nächsten Abend der «Staatsempfang» von Engholm für Grass zum 65. in Lübeck. Eine flach-freundliche Rede dieses wohl doch nicht übermäßig intelligenten Funktionärs; eine SEHR amüsante, wie fast immer herrlich formulierte kurze Ansprache von Rühmkorf, bei der mich die für ihn seltene Ehrerbietigkeit überraschte; die BESONDERS witzige Rede eines Germanisten (eigentlich eine Contradictio in adjecto ), der das Märchen vom Schriftsteller Grass erzählte, der nach einem Welterfolgsanfang nur noch an dem gemessen und mit allem Späteren, daran verglichen, herbe kritisiert wurde, zumal mit den spärlich gespielten Stücken, dem man auch sein politisches Engagement zeitlebens vorwarf und dem ein Landesfürst den 65. Geburtstag ausrichtete, sintemalen er im Auslande hochgeschätzt und als Repräsentant deutscher Kultur begriffen wurde: «Sie haben, meine Damen und Herren, natürlich gemerkt, daß ich von Johann Wolfgang Goethe sprach.» Günter selber hingegen harsch, auch hier wieder eine POLITISCHE Rede haltend, in der alle Schwierigkeiten – von Asyl über Rechtsextremismus zu Ökologie – gelöst wurden.
Schloß Rheinsberg bezaubernd (war vorher nie da), heiter, leicht, entzückend in der Mischung aus Renaissance und friderizianischem Barock, inmitten dieser «heimischen» und beschwingten märkischen Landschaft – zumal im Herbst; wobei ich mich ohnehin frage, woher die immense Faszination kommt, die der Herbst mit seinen müden Asterfarben, blaß werdenden Dahlien und glänzenden Kastanien, die ich wie ein Kind beim Gang zum morning-swim aufhebe, auf mich ausübt; vom Anblick morgendlich in den Garten (vom Wasser her) watschelnder Enten und Schwäne, die den Hrdlicka offensichtlich «anstaunten», und unter den flammenden Rot-Ahornästen war ich geradezu gerührt. So also auch höchstes Wohlbefinden in dieser märkischen Landschaft.
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