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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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seine Rätselwelt, meist wortlos oder mit unverständlichem Text, nur imaginiert mit Wundern und Bildern: herrlich (wenn’s dann mal so gelingt); neben EINSTEIN ON THE BEACH das beste – auch «philosophisch» eindringlichste. Hat er Monod gelesen – oder ist das Koinzidenz, daß «Der Mensch ist ein Zufall» immer wiederkehrte.
    Flug Kreta – München am 7. Mai
    Ab nach Kreta, in den Mythos. Es war eine der irrsinnigsten Veranstaltungen, an der ich je teilnahm. Und hat doch einen ernsten Hintergrund: Es geht um die Verabschiedung der Ratio, um die Verkündung des Endes des Zeitalters der Aufklärung. Ob Peter Stein nur noch «Bilder setzt»; ob Robert Wilson sich gar bewußt dem Verstehen entzieht mit seinen Imaginationen; ob in Rom ein Benn-Kongreß stattfindet oder nun hier einer über «den Mythos»: Geschichte als das von Menschen Gemachte und von ihnen zu Verantwortende wird verabschiedet. Vom Begriff zum Bild – von historischer Dialektik zum statischen Mythos, zum Schicksal; denn Ödipus, z. B., hat ja keine Entscheidungsfreiheit, er ist verurteilt, unschuldig schuldig zu werden, kann ja nicht sagen (weil er’s nicht weiß): «Meine Mama mag ich aber nicht ficken.» Ein großes Thema – von diesem Publikum unbegriffen, das aus Milwaukee-Handarbeitslehrerinnen, San-Francisco-Gays und allerlei middlebrow -Hochstaplern bestand: «But we wanted to touch the heros», weinten die enttäuschten (und um ihr Geld geprellten) Amerikanerinnen: Kein Lévi-Strauss, kein Ernst Jünger, kein García Márquez war gekommen. Ein halber (für 2 Tage) Paul Feyerabend, wirr und unvorbereitet, aber lustig-temperamentvoll, wie alle jüdischen Amerikaner aus Wien stammend – – und ein Viertel Borges (: für 1 Abend; absurd: aus Tokyo eingeflogen!!!). Ansonsten war es eine reine Irren-Veranstaltung, mit «morning-workshop» bis morgens um 4 oder Ringelreihentanz frustrierter Emanzen, jeder 3. war Psychotherapeut (was das nun mit Mythos zu tun hat?), und jeder 2. brauchte auch einen.
    Die ewige Antatscherei und kindlich-einfältigen Gesichter, hinter denen aber auch wirklich außer Einfalt nix ist! Ein herrliches Beispiel: mein «Kurschatten», ein junger, sehr gut aussehender Amerikaner, «no profession». Auf dem «Selbstfindungstrip», sagte er mir, meine «glowing eyes» hätten ihn vom ersten Moment an fasziniert, und als er meine Hüften am Strand gesehen hätte …
    Ja, und dann: war eigentlich garnix. Unsereins denkt doch nun an zumindest eine heiße Nacht – und ich sauste los und besorgte Kerzen und ’ne Pulle Schampus in den Eisschrank (hatte einen Bungalow für mich) und rückte die Betten zusammen, stellte ’ne Schale Obst hin und klaute Blümchen – und dann hatte der Herr ’ne «Krise»!! Und nun kommt das Schönste: Er wußte garnicht, wo er war. Daß Kreta irgendwie zu Griechenland gehörte, ahnte er – mein Vorschlag, mit Leih-Auto’chen nach Knossos und vor allem ins minoische Museum in Heraklion zu fahren, löste tiefstes Unverständnis aus: was denn in Knossos «los» sei, was minoisch sei – und überhaupt möchte er lieber ein Motorrad (!) leihen und in den Bergen zu sich selbst finden. Daß er da garnix findet, hatte das schöne Reh immer noch nicht begriffen, sowenig wie meinen Satz, hier seien wir an der Wurzel Europas, an der Wiege. Wahrscheinlich hielt er es für einen obszönen Witz …
    Die Pointe wollte es, daß ich ihn abends – er zurück von den Bergen, ich zurück von Knossos – ohne Benzin auf der Autobahn auflas. Zu dumm zum Tanken …
    Vor lauter Starren auf sich sehen sie die Welt nicht und ertrinken wie Narziß im Wasser. (Wir sind Egoisten, aber keine Narzisse: Egoisten sind auch ich-bezogen, ziehen daraus aber Ehrgeiz, Kraft, Produktivität – gehen in die Welt, nicht aus ihr raus. Selbst Eitelkeit ist ja eine Produktiv-Kraft.)
    Deshalb ist mir diese Anti-Aufklärungs-, Anti-Ratio-Welle so unheimlich; und natürlich auch, weil sie meinem Gesetz des Aktiven, des Tuns, der vita activa statt vita contemplativa , zuwiderläuft.
    Wobei ich ahne und spüre, daß es sehr wohl noch eine andere Dimension gibt/geben muß. Religion? Ich ahne da sogar eine Veränderung meines Lebens in den nächsten Jahren. Bin da in einem Tunnel, dessen Licht am Ende ich noch nicht sehe. Das hat wohl nichts zu tun mit dem banalen «Jetzt legen wir uns alle auf den Rücken und bilden einen Kreis und denken einen Satz mit 3 Worten»; grauslich – und dirigistisch, gar diktatorisch – das Entsetzliche

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