Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)
Dinner – und ab ins Bettchen. Ich werde zu meiner eigenen Roman-Figur …
22. Mai
Der gestrige Abend mit Platschek – er lädt immer mal unter der vornehmen Lüge, er habe ein teures Bild verkauft, zu elegantem Restaurant-Dinner ein – flach und nur mäßig skurril. Ich mag seine diebischen Augen, mit denen er ein Päckchen Streichhölzer aus dem LUTETIA auf dem Tisch entdeckt und sagt: «Muß aber Heinrich Mann draufstehen» (was eben zeigt, wie gebildet er ist – – – daß er weiß, daß in dem Hotel die deutschen Emigranten tagten); aber unser Gespräch (was ja heißt: auch, was ICH sagte) war schal. Ist das gegeben bei zwei kultivierteren älteren Herren, die alle van Goghs dieser Welt gesehen und alle Flauberts der Weltliteratur gelesen haben?
Zu dieser Verkapselung gehört aber auch: Ich bin angewidert von den z. T. überdeutlichen und brutalen Sex-Scenen der Stücke, die ich am Broadway sah, und mir ist förmlich flau im Magen heute nach Beendigung der Lektüre dieser amerikanischen Foucault-Biographie, die in extenso Sado-Maso-Praktiken und Foucaults Verfallenheit an diese Schwanzring-Brustwarzenspangen-fist-fuck-Instrumentarien beschreibt (und hochintelligent analysiert).
Hotel Kempinski, Berlin, den 27. Mai
Wenn ich doch begriffe, wie gut es mir geht: ohne Sorgen, was Hotel-Taxi-Flugzeug usw. kosten, ohne Zeitdruck, Terminhast kann ich meine selbstgewählten Themen erarbeiten (97 % der Menschen, las ich kürzlich, können ihr Leben nicht selbst bestimmen). Heute also Besuch im Brecht-Haus, den ich hier nicht zitieren will, um «mein Pulver nicht zu verschießen» (für die Reportage). Nur die Kargheit – protestantisch? – soll festgehalten werden; vor allem, wenn man das mit Aragons französischem Luxus oder Arthur Millers amerikanischer Großräumigkeit vergleicht – und bedenkt, daß mit denen verglichen Brecht doch wirklich die Literatur-Welt verändert hat.
Gestern gleich nach der Ankunft die große, aber künstlerisch bis zur Leere enttäuschende Ausstellung zeitgenössischer amerikanischer Malerei – ob Rauschenberg, De Kooning, Lichtenstein oder Warhol: alles in die großmäulige Sprache der Reklame verzerrte Derivat-Kunst der europäischen Moderne, grell statt farbig, laut statt stark, Klischees schaffend statt entlarvend, Tricks statt Gesten. 1 ½ Ausnahmen.
Die anderen malen frech Malewitschs schwarzes Quadrat noch einmal.
2. Juni, im Zug nach Frankfurt
Noch ein Nachtrag zu meinem Besuch im Brecht-Archiv: kein Buch, kein Widmungsexemplar von Hans Mayer, der doch ganz gewiß mit derselben Beflissenheit, über die Janka vom Besuch bei Thomas Mann berichtet (Mayer redet Mann mit «Herr Professor» an …), dem armen Brecht jede gedruckte Zeile von sich zusandte mit epischen Widmungen. Das war dem Meister nicht bewahrenswert (wie ich in meinem gestern geschriebenen Artikel andeute …).
Lauter Zusammenhänge: Der einst alerte, auf verschrobene Weise komische Heißenbüttel mußte gestern zur Feier seines 70. (im Literaturhaus) hineingetragen, dann im Rollstuhl herumgefahren werden; er erkannte niemanden, blickte blöden Auges herum, alle flohen ihn oder flüchteten sich in makabre Witze à la: «Einarmig genügt wohl nicht?» Ein Goya-Bild der tuschelnden has-beens : FJR mit Gneuss, Drommert mit Meichsner, Mechthild Lange mit … Man kann sich nicht oft und energisch genug klarmachen: In 8 Jahren bin ich 70! – wie schnell alles aus ist.
Notierenswert, daß dann doch bei vielen banalen Gelegenheiten Nachdenken-machende Gespräche. Bei dem Heißenbüttel-Cocktail erläuterte mir ein ehemaliger ZEIT-Wissenschaftsredakteur, daß eben von dem Moment des befruchteten Eis an ein «menschliches Wesen» existiere mit komplettem genetischen Programm – daß also die Abtreibung – Ja-oder-Nein-Diskussion – anders geführt werden müsse, nicht à la «Mein Bauch gehört mir», denn dann müßte man Frauen auch zubilligen, einen 2jährigen Mongoloiden umzubringen – kein qualitativer Unterschied.
Wie ein PS zum Abtreibe-Thema gestern abend einen meiner geliebten Tierfilme gesehen (das einzige, was ich wirklich gerne im TV sehe). Wie immer schockiert über das feste Code-System, mit dem Fortpflanzungs- oder Nahrungstrieb geregelt sind, der Kampf ums Weibchen (ob bei Seelöwen, Fischen oder Tigern), die «Haushalts»-Fürsorge und Fütter-Sorgfalt der «Mütter» (eine Seelöwen-Mutter «weiß», wie sie die Geburt abnabelt, und Krähen drum herum «wissen», daß sie gleich die
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