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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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Nachgeburt zum Fraß bekommen …) – es ist alles wie beim Menschen. Kampf ums Fressen, Ficken, Fortpflanzen, Sterben. Das Bücher-Schreiben (Malen, Komponieren, Dome bauen) ist das Gefieder-Putzen.
    Sind also «menschliche» Regungen wie Liebe, Freundschaft, Solidarität Schimären?
    Kampen, den 18. Juni
    Wie doch Leere in einen eindringt. Nun ist der 17. Juni VIERZIG Jahre her, ich warf – TATSÄCHLICH in kurzen Hosen – Steine auf die russischen Panzer (die inzwischen verschrottet werden), und meine innere Erregung gilt inzwischen einem neuen Marmorbad in meiner Sylter Wohnung, nicht der Gesellschaft. Marmor ist verkalktes Muschelgestein. Das ist von mir geblieben: Kalk und Muschel, fein gemahlen.
    Kampen, den 19. Juni
    Alarmierendes Zeichen: Mir gefällt meine geliebte Syltbude im Moment (hoffentlich nur im Moment) nicht mehr, finde sie plüschpantoffel-spießig, phantasielos, überladen mit gedrechselten Leuchtern und drittklassiger Airport-Art. Vor allem nach dem sehr schön und streng gewordenen, neu-gekachelten Bad, in dem alle 20 cm irgendein Schnokus hing oder stand (und das nun kühl und akkurat wie ein Operationszimmer ist), finde ich alles überladen und peinlich-kleinbürgerlich.

    Peinlich-kleinbürgerlich finde ich vor allem mich selber und meine «Kunst»-Produktion. Da ist dann doch – selbst wenn’s wie mit den Sonetten schiefgeht – Grass ne andre Kategorie; und typischerweise ist er auch kraftvoller, weniger skrupulös sich selber gegenüber (anderen sowieso) und von keinem Selbstzweifel geplagt. Das geht einem zwar mit seinem «Du mußt» oder «Du darfst nicht» oder «Ich werde dann da aber …» auf den Geist, ist aber für SEINE innere Balance gut.
    Kampen, den 23. Juni
    Zwei Lesefrüchte:
    «Wenn unser Herz einmal seine Lese gehalten hat, ist Leben nur noch ein Übel» (Baudelaire).
    «Ältere Männer, die nicht lächerlich erscheinen wollen, sollten nicht von der Liebe reden als einer Sache, an der sie noch Anteil nehmen könnten» (La Rochefoucauld; von Wunderlich mir mit unserem neuen Spielzeug Fax zugeschickt).
    Kampen, 2. Juli
    Endlich schönes Wetter. Baudelaire-Lektüre fast beendigt – mit zweifelhaftem Erfolg insofern, als er mir NICHT gefällt; im Journalismus oberflächlich, in den Gedichten zuviel Klingelingeling.
    Besorgnis erregend mein Nervenzustand – ich bin von einer innerlichen Angespanntheit, daß ich z. B. nie DIE Sache genießen kann, die ich gerade betreibe, sondern immer schon «voraus-gespannt» auf die darauf folgende bin: bei der Morgengymnastik aufs Schwimmen; beim Schwimmen aufs Frühstück; beim Frühstück auf die Cigarette danach; bei der Cigarette auf die Post, die Faxe, das Telefon danach – und so den ganzen Tag.
    Ich sehe auch nichts mehr – ein ganz unheimliches Phänomen, schwer zu beschreiben. Während ich früher jedes Kornfeld, jede Möbelintarsie, jedes Lederpolster im Auto gleichsam mit den Augen streichelte, mir ALLES sinnlich Wahrnehmbare geradezu ein Lustgefühl bereitete – ob nun ein Velázquez oder das Anziehen neuer Strümpfe aus besonders feinem Baumwoll-Material –, SEHE ich das jetzt zwar alles, aber nehme es gleichsam nicht wahr. Es dringt quasi nicht in meine Seele. Im Englischen hat man den Unterschied «I look at it but I don’t see it» – so etwa. Ich ZWINGE mich, die Kornblumen oder die schwarzen Rinder oder die blühenden Disteln auf der morgendlichen Fahrt nach Keitum anzusehen, wahrzunehmen – sie bereiten mir keine innerliche Freude, sie dringen nicht in mich ein. Wenn aber das Salz dumpf wird …
    Ich bin lächerlich.
    Kampen, den 14. Juli
    Hans Mayer verlogen: «mein Freund Brecht»; aber in Brechts Bibliothek findet sich KEIN einziges Buch von Mayer.
    Ich könnte aus eigener Zeugenschaft BEWEISEN, daß er z. B. in 2 Details lügt: «Mein Freund Bloch» hat ihm die Tür gewiesen, ich selber habe noch zu vermitteln versucht bei einem Besuch im Hause Blochs in Tübingen, er wehrte das aber kühl und entschieden mit dem für mich berühmt gewordenen «les relations suspendues» ab. Und das «Ringen» um Bleiben oder Gehen in Sachen DDR: Hier, in Kampen, bin ich ZWEI JAHRE vor seiner Flucht mit ihm spazieren gegangen (Jens, war zeitweise dabei, könnte es bezeugen), und die Flucht wurde VORBEREITET – Mayer wörtlich: «Ich gehe nur, wenn ich hier eine Professur kriege.» Und von da an wurden alle Höllerers, Dönhoffs, Golo Manns der Welt eingespannt, ICH persönlich habe qua Rowohlt Teile seiner Bibliothek –

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