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Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition)

Titel: Tagebücher: Jahre 1982-2001 (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fritz J. Raddatz
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der Mahlzeit gesagt: «Es war mir eine Ehre, Sie als meinen GAST zu bewirten.» Am nächsten Tag kam von Vogel ein Scheck über den Betrag SEINER Mahlzeit (ohne die von Skierka) mit der Bitte, den Betrag einer wohltätigen Organisation zuzuleiten. Auf die Idee käme Mitterrand NIE.
    Eine Zeitung ist schon ein interessanter Mini-Kosmos oder führt das vor, was die feinen Leute «gruppendynamische Prozesse» nennen. Der Herr Leicht z. B. wird «nicht angenommen», wie ein Körper ein Medikament (oder einen Giftstoff?) abstößt, so stößt der Redaktionscorpus ihn ab. Der Grund, meines Erachtens: Er ist ein Intellektueller. Das war/ist Ted Sommer nicht – der ist gebildet, intelligent meinetwegen – aber kein Zweifler, Nörgler, In-Frage-Steller, Besserwisser. Er hatte nie Leichts Schärfe, sondern immer eine Kegelclub-Bonhomie. Deswegen lachten sie über seine dümmsten Witze, die Gruppe identifizierte sich in und auf diesem Niveau – mit kleinen Salzkörnchen der Selbstironie, wiederum auch bei Sommer –, während sie sich angegriffen, «gepiekt» fühlt von dem Herrn Leicht. Und prompt allergisch reagiert.
    Ist es schlimm oder gut, daß mich das vollständig gleichgültig läßt? Die innere Mechanik der Zeitung interessiert mich nicht mehr. «Schafft ihn fort und klagt um ihn», heißt es im Coriolan.
    Letzter Nachtrag: In den beiden letzten Tagen den Rest der Korrespondenz mit Mary Tucholsky (für das und vor dem Weggeben nach Marbach) durchgelesen. Das war eben DOCH eine der wichtigsten Beziehungen meines Lebens – geradezu erotisch in der Spannung, dem Vertrauen, der Wut, dem Enttäuschtsein, dem immer wieder betonen: «dennoch …». Meine frühen Briefe zeigen nicht zuletzt die große Anspannung der Ost-Berlin-Zeit, diese totale Präokkupation von «der Sache»! (ein Gemisch aus Literatur, Sozialismus, literarischen und politischen Querelen), ohne EINE Minute Zeit für auch nur den kümmerlichsten Hedonismus; keine Zeile über einen Theater-Abend, ein Konzert, ein Museum. Ich war ca. 22 Jahre – ein Pfeil, der von der Sehne schnellte, das Ziel hieß Arbeit, Durchsetzen von Büchern, Kämpfen um Pressefreiheit. Und die Seelenlage war die eines Jammerlappens. Schon so früh fast NUR Klagen über Übermüdung, zu viel rauchen, durchgearbeitete Nächte usw. – mit z. T. eher kühlen Reaktionen von Mary Tucholsky. Nur selten Güte von ihrer Seite – dachte sie vielleicht: «Lasse den sich man ausweinen – Hauptsache, er macht die Tucholsky-Ausgabe, und zwar mit möglichst vielen Bänden»? (Was ihr ja immerhin auch viel Geld einbrachte, z. B. den Einbau der Ölheizung konnte sie sich erst nach Eingang eines Schecks von VOLK UND WELT leisten.)
    Transmar-Kongreß-Hotel, Erlangen, den 28. August
    Im ICE zurück nach Kampen von einer meiner «Seidenraupen»-Fahrten: wie eine Seidenraupe, die den selbstgesponnenen Faden gleich wieder auffrißt, um Nahrung zum Spinnen des nächsten Fadens zu haben, den sie wieder auffrißt, um …
    So sause ich zu gelegentlichen «literarischen Veranstaltungen», an denen mich nichts als der Scheck interessiert (der bald aufgefressen ist). Diesmal also in Erlangen Gespräch mit Adolf (wie kann jemand 1933 seinen Sohn Adolf nennen? Wieso hat er nicht einen anderen Namen angenommen) Muschg. Das verlief nett, routiniert, flach: wie seine Literatur. Sie ist ohne Fehl und Tadel, ordentlich gebaute Sätze schmoren auf der Flamme einer kleinen Phantasie; nie und nirgendwo wird die Sphäre des «ganz brav» durchstoßen: mit einem Wort: gefällig. Gehobene Unterhaltungsliteratur für das gebildete Publikum: «Feingliedrig wie ein Geschmeide wucherte eine freie Wolke Dampf gegen das Fenster hin.»
    Das derlei auch prompt goutiert. Vom Anstößigen würden sie sich abwenden. Das bleibt im Kanon «Goethe war ein Genie, Mozart war frühvollendet» und eckt nirgendwo an. Es befriedigt Erwartungshaltungen – übrigens auch politisch.
    Zum Thema DDR wußte der an der Züricher Goldküste wohnende, pensionsberechtigte Professor vor der «Hetzjagd» zu warnen (die böse Westdeutsche auf ehrenwerte Ossis veranstalten, angeblich): Applaus. Denn sie wollten ihren Pakt mit einer Diktatur auch nie untersucht sehen. Die viel strapazierte Redefigur «Ich kann nicht beschwören, wie ich mich verhalten hätte …» sagt genug. Ich weiß es. Und Schädlich, Kunert, Sarah Kirsch, Schütz, Fuchs wissen es auch.
    Der kleine, sympathische – mit dem bräsig-selbstzufriedenen Schweizer verglichen nervöse –

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